Verpflichtung des Jugendamts zur Einrichtung begleiteter Umgänge
VG Bremen, Beschluss vom 20. April 2023 – 3 V 63/23 –
Aus dem Sachverhalt:
Der ASt. ist der leibliche Vater von drei Kindern (geb. 2013, 2014 und 2018). Die Mutter verstarb 2022. Über einen Hinweis erfuhr das Jugendamt, dass der Vater gegenüber den Kindern mehrfach gewalttätig gewesen sei. Auf Anregung des Jugendamts wurde dem Vater im Wege der einstweiligen Anordnung die elterliche Sorge für die drei Kinder entzogen, das Jugendamt zum Vormund bestellt und die Kinder aus dem väterlichen Haushalt genommen. Im selben Verfahren kamen die Bet. zudem darin überein, dass zwischen dem Vater und den Kindern begleitete Umgangskontakte stattfinden sollten. Das Jugendamt erklärte sich bereit, einen Träger für die Umgangsbegleitung zu suchen, was nach Darstellung des Jugendamts allerdings aus Kapazitätsgründen scheiterte.
Im weiteren Verlauf versuchte der Vater, sein Umgangsrecht im Wege von Umgangsverfahren durchzusetzen. Zwar zog das Familiengericht einen vollständigen Umgangsausschluss allein aufgrund des geäußerten Willens der Kinder nicht in Betracht. Allerdings äußerte es sich dahingehend, dass es in Ermangelung einer Benennung eines Trägers durch das Jugendamt die Umgangskontakte gegenwärtig nicht regeln könne. Daraufhin stellte der Vater beim Verwaltungsgericht einen Eilantrag mit dem Ziel, dem Jugendamt aufzugeben, einen Träger für die Umgangsbegleitung zu suchen und einen entsprechenden Hilfeplan zu erstellen.
Aus den Gründen:
„(…) Der so verstandene Antrag hat Erfolg.
Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert wird. Nach Satz 2 der Vorschrift sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung zur Abwendung von wesentlichen Nachteilen oder drohender Gewalt oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Erforderlich ist neben einer besonderen Eilbedürftigkeit der Regelung (Anordnungsgrund), dass dem Hilfesuchenden mit Wahrscheinlichkeit ein Anspruch auf die begehrte Regelung zusteht (Anordnungsanspruch). Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch sind glaubhaft zu machen, § 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. § 920 Abs. 2 ZPO.
Dabei entspricht es dem Wesen der einstweiligen Anordnung, dass es sich um eine vorläufige Regelung handelt und der jeweilige Antragsteller nicht bereits im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes das erhalten soll, worauf sein Anspruch in einem Hauptsacheverfahren gerichtet ist; das Verfahren der einstweiligen Anordnung soll also nicht die Hauptsache vorweg nehmen. Das grundsätzliche Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache gilt im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG jedoch dann nicht, wenn eine bestimmte Regelung zur Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes schlechterdings notwendig ist, d. h. wenn die zu erwartenden Nachteile für den Antragsteller unzumutbar wären und ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg auch in der Hauptsache spricht (…). Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.
Vorliegend lässt sich eine hohe Wahrscheinlichkeit für das Bestehen des vom Antragsteller verfolgten Anspruchs auf Einrichtung der vereinbarten begleiteten Umgangskontakte in dem tenorierten Umfang feststellen.
Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch ist § 18 Abs. 3 Satz 3 und 4 SGB VIII. Nach Satz 3 der Regelung haben u. a. Eltern einen Anspruch auf Beratung und Unterstützung bei der Ausübung des Umgangsrechts. Die Regelung aus § 18 Abs. 3 Satz 3 SGB VIII vermittelt dem Umgang beanspruchenden Elternteil ein verwaltungsgerichtlich einklagbares subjektives Recht gegen den staatlichen Träger der Jugendhilfe auf Beratung und Unterstützung bei der Ausübung des Umgangsrechts, welches nötigenfalls im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes durchgesetzt werden kann (…). Gemäß § 18 Abs. 3 Satz 4 SGB VIII soll das Jugendamt bei der Herstellung von Umgangskontakten und bei der Ausführung gerichtlicher oder vereinbarter Umgangsregelungen vermitteln und in geeigneten Fällen Hilfestellung leisten.
Die Vorschriften des § 18 Abs. 3 Satz 3 und 4 SGB VIII dienen jedoch nicht der Verschaffung eines Umgangsrechts, sondern nur der Unterstützung und Hilfestellung des Jugendhilfeträgers bei der Ausübung eines bestehenden Umgangsrechts bzw. bei der Ausführung vereinbarter oder gerichtlicher Umgangsregelungen. Ein unmittelbarer Anspruch auf Verschaffung des Umgangs mit einem Kind folgt allein aus der familienrechtlichen Vorschrift des § 1684 Abs. 1 Halbsatz 2, Abs. 4 BGB. Über dessen Bestehen und Umfang trifft jedoch nicht der Jugendhilfeträger, sondern gemäß § 1684 Abs. 3 Satz 1, Abs. 4 Satz 1 BGB allein das Familiengericht eine Entscheidung, sofern keine einvernehmliche Regelung über die Ausübung des Umgangsrechts erzielt werden kann (…). Dem Familiengericht kommt jedoch weder gegenüber dem Jugendamt noch gegenüber freien Trägern der Jugendhilfe eine Anordnungskompetenz zur Begleitung von Umgängen zu. Um dem Familiengericht die Anordnung einer Umgangsregelung zu ermöglichen, beinhaltet der Anspruch des umgangsberechtigten Elternteils auf Hilfestellung nach § 18 Abs. 3 Satz 3 und 4 SGB VIII auch, dass das Jugendamt gegenüber dem Familiengericht seine Bereitschaft zur Mitwirkung bei der Einrichtung und Durchführung von begleiteten Umgangskontakten erklärt (…). Hierzu zählt auch die Benennung eines zur Durchführung des Umgangs bereiten Trägers durch das Jugendamt gegenüber dem Familiengericht (…). Trifft das Familiengericht hiernach eine dementsprechende Umgangsregelung, setzt sich die Verpflichtung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe in der tatsächlichen Mitwirkung fort (…).
Zwar hat das Familiengericht im vorliegenden Fall im Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Regelung des Umgangsrechts (… EAUG) bislang keine gerichtlichen Umgangskontakte angeordnet. Jedoch wurde in der nichtöffentlichen Sitzung des Familiengerichts vom 22.09.2022 im Sorgerechtsverfahren … EASO zwischen den Beteiligten die Vereinbarung getroffen, dass der Antragsteller einmal wöchentlich begleiteten Umgang mit seinen drei Kindern haben soll. Die Antragsgegnerin war im familiengerichtlichen Prozess … EASO vertreten und hat ihre Bereitschaft erklärt, einen Träger für die Umgangsbegleitung zu suchen. Diese Vereinbarung bestimmt den Rahmen, innerhalb dessen der Antragsteller das Umgangsrecht mit seinen Kindern wahrnehmen kann. Die Vereinbarung wurde – soweit nach Aktenlage ersichtlich – nicht widerrufen und gilt daher auch aktuell noch fort.
Es ist auch ein geeigneter Fall im Sinne des § 18 Abs. 3 Satz 4 SGB VIII gegeben. Bei der Auslegung des Begriffs des „geeigneten Falls“ ist im Ansatz davon auszugehen, dass das Recht von Eltern auf Umgang mit ihrem Kind (und umgekehrt), das in § 1684 BGB einfachgesetzlich geregelt ist, sowohl durch Art. 6 Abs. 2 GG grundrechtlich als auch durch Art. 8 Abs. 1 EMRK menschenrechtlich gewährleistet ist, ihm also ein hoher Rang zukommt. Dem entspricht es, dass die Beschränkung oder gar der Ausschluss des elterlichen Umgangs mit dem Kind strengen verfassungsrechtlichen Anforderungen unterliegt und einer vor dem hohen Rang der genannten Gewährleistungen standhaltenden Rechtfertigung bedarf. Richtschnur für die insoweit vorzunehmende Verhältnismäßigkeitsprüfung ist dabei das Kindeswohl, dem im Konfliktfall der Vorrang vor den Elterninteressen zukommt (…). Eine Kindeswohlgefährdung liegt dann vor, wenn eine gegenwärtige oder zumindest unmittelbar bevorstehende Gefahr für die Kindeswohlentwicklung abzusehen ist, die bei ihrer Fortdauer eine erhebliche Schädigung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls des Kindes mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt. Typische Anwendungsfälle sind Kindesmisshandlung, sexuelle Gewalt und Vernachlässigung (…).
Das Gericht hat derzeit keine Anhaltspunkte dafür, dass die Durchführung von begleiteten Umgangskontakten eine Kindeswohlgefährdung unmittelbar erwarten lässt. Es ist anzunehmen, dass die Begleitung durch eine geeignete Fachkraft eine Kindeswohlgefährdung aus Anlass von Umgangskontakten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausschließt. Auch die Antragsgegnerin hat nicht geltend gemacht, dass ein begleiteter Umgang des Antragstellers zu seinen Kindern zu einer Kindeswohlgefährdung führen würde. Sie trägt im hiesigen Gerichtsverfahren lediglich vor, dass kein Träger gefunden werden konnte, der die Umgangsbegleitung übernehmen könnte. Die Antragsgegnerin hat jedoch im Rahmen ihrer Mitwirkungsverpflichtung alle ihr möglichen Maßnahmen zu ergreifen, den begleiteten Umgang in dem vereinbarten oder gerichtlich festgestellten Umfang zu gewährleisten. Im Zusammenhang mit § 79 Abs. 2 Nr. 1 SGB VIII trifft den öffentlichen Jugendhilfeträger eine Gewährleistungsverpflichtung, rechtzeitig für ausreichende bedarfsgerechte Beratungs- und Unterstützungsangebote zu sorgen. Kann das Jugendamt den Rechtsanspruch auf begleiteten Umgang nicht mit eigenem Personal bewerkstelligen, zählt dazu auch die Sorgetragung, dass entsprechende organisatorische oder personelle Voraussetzungen ggf. über freie Träger der Jugendhilfe zur Verfügung gestellt werden (…). Fehlende organisatorische und personelle Kapazitäten sind daher kein Grund für eine Verweigerung der Einrichtung von Umgangskontakten und einer entsprechenden Mitwirkung des Jugendamtes ( …).
Das Jugendamt muss zunächst die Voraussetzungen eines begleiteten Umgangs schaffen und einen solchen durchführen, um beurteilen zu können, ob sich weitere begleitete Umgänge realisieren lassen. Erst wenn sich Umgangskontakte wegen aufkommender Probleme in der Person des Antragstellers oder in der Beziehung zwischen dem Antragsteller und den Kindern praktisch nicht umsetzen lassen, sind die Umgangskontakte familiengerichtlich neu zu regeln. Bis dahin obliegt es der Antragsgegnerin, ihre Möglichkeiten zur Förderung des Umgangs auszuschöpfen (vgl. VG Bremen, B. v. 23.11.2020, 3 V 1093/20).
Der Antragsteller hat schließlich den erforderlichen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Einstweiliger Rechtsschutz hat vor dem Hintergrund des Art. 19 Abs. 4 GG die Aufgabe, in den Fällen effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, in denen eine Entscheidung in dem grundsätzlich vorrangigen Verfahren der Hauptsache zu schweren und unzumutbaren, nicht anders abwendbaren Nachteilen führen würde, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (…). Bei durchschnittlichen Verfahrenslaufzeiten von etwa einem Jahr ist dem Antragsteller ein Abwarten bis zur Entscheidung in einem Hauptsacheverfahren nicht zumutbar. Dem Antragsteller drohen wesentliche Nachteile. Ohne den begleiteten Umgang mit seinen Kindern würde unwiederbringlich in sein durch Art. 6 GG grundrechtlich geschütztes Elternrecht eingegriffen. Zudem würde ein weiteres Zuwarten eine erhebliche (weitere) Beeinträchtigung der Beziehung des Antragstellers zu seinen Kindern befürchten lassen. (…)“
Zusammenfassung:
- Das Jugendamt hat im Rahmen seiner Mitwirkungsverpflichtung alle ihr möglichen Maßnahmen zu ergreifen, den begleiteten Umgang in dem vereinbarten oder gerichtlich festgestellten Umfang zu gewährleisten.
- Fehlende organisatorische und personelle Kapazitäten sind kein Grund für eine Verweigerung der Einrichtung von Umgangskontakten und einer entsprechenden Mitwirkung des Jugendamts.