Anspruch auf Unterhaltsvorschuss, obwohl beide Eltern in der gleichen Wohnung leben
VG Hamburg, Urteil vom 20.11.2023 – 13 K 4357/22
Aus dem Sachverhalt:
Der Vater beantragte für seine 2014 und 2019 geborenen Kinder Ende Juni 2022 UV-Leistungen. Die Eltern leben seit vielen Jahren in der gemeinsamen Familienwohnung und trennten sich im Frühjahr 2021, ohne dass ein Elternteil ausgezogen ist. Anfang Juni 2022 bevollmächtigte die Mutter den Vater ua zur Abgabe von Erklärungen zu sämtlichen die Kl. betreffenden Behördenangelegenheiten. Zum Nachweis der Trennung wurde der Antrag des Vaters auf Ehescheidung sowie ein Bestätigungsschreiben der Mutter über das Getrenntleben von Anfang Juni 2022 eingereicht. Das Jobcenter ging bereits von der Alleinerziehung des Vaters aus.
Zum 1.9.2022 zog die Mutter dann aus der Wohnung aus. Im Streit ist noch der Anspruch auf UV-Leistungen für den Zeitraum Juni bis August 2022.
Aus den Gründen:
„(…)Die Ablehnung des begehrten Verwaltungsakts ist jeweils rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO), denn diese haben für den aus dem Tenor ersichtlichen Zeitraum einen Anspruch auf Unterhaltsvorschuss gemäß § 1 Abs. 1 UVG.
1. Die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 UVG liegen jeweils vor: Die im August 2014 bzw. im März 2019 geborenen Kläger hatten das zwölfte Lebensjahr in dem streitgegenständlichen Zeitraum noch nicht vollendet (Nr. 1), erhielten keinen Unterhalt von ihrer Mutter (Nr. 3) und lebten entgegen der Auffassung der Beklagten bei ihrem alleinerziehenden und von der Mutter dauernd getrennt lebenden Vater (Nr. 2).
a) Ein Kind lebt im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 UVG bei einem seiner Elternteile, wenn es mit ihm eine auf Dauer angelegte häusliche Gemeinschaft unterhält, in der es auch betreut wird. Entsprechend dem Sinn und Zweck des Unterhaltsvorschussgesetzes kommt es entscheidend darauf an, ob der Elternteil wegen des Ausfalls des anderen Elternteils die doppelte Belastung mit Erziehung und Unterhaltsgewährung in einer Person zu tragen hat. Um dies festzustellen, sind vor allem die persönliche Betreuung und Versorgung, die das Kind bei bzw. von dem anderen Elternteil erfährt, und die hiermit einhergehende Entlastung des erstgenannten Elternteils bei der Pflege und Erziehung des Kindes in den Blick zu nehmen. Trägt dieser die alleinige Verantwortung für die Sorge und Erziehung des Kindes, weil der Schwerpunkt der Betreuung und Fürsorge bei ihm liegt, so erfordert es die Zielrichtung des Unterhaltsvorschussgesetzes, die Anspruchsvoraussetzung „Leben bei einem der Elternteile“ als erfüllt anzusehen (…).
Das Vorliegen einer elterlichen Alleinverantwortung bzw. -erziehung ist danach stets auf Grundlage einer umfassenden Würdigung des Einzelfalls zu beurteilen. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, welche Person die elementaren Lebensbedürfnisse des Kindes sichert und befriedigt, wer also im Wesentlichen für die Pflege, Verköstigung und Kleidung sowie für die Ordnung und Gestaltung des Tagesablaufs sorgt, und von welchem Elternteil das Kind überwiegend seine emotionale Zuwendung erhält (…). Einen weiteren wesentlichen Gesichtspunkt stellt die vorrangige Kindergeldberechtigung nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG dar. Denn das in diesem Zusammenhang maßgebliche Kriterium der Aufnahme in den Haushalt weist erhebliche Parallelen zu dem Merkmal „Leben bei einem der Elternteile auf“ (…); es liegt nach dem in der finanzgerichtlichen Rechtsprechung anerkannten sog. Obhutsprinzip vor, wenn das Kind in ein familienartiges Betreuungs- und Erziehungsverhältnis eingebunden ist, d.h. mit dem Berechtigten – im unterhaltsvorschussrechtlichen Kontext: dem Elternteil – örtlich gebunden zusammenlebt und von diesem Unterhaltsleistungen materieller und immaterieller Art erhält (…).
Unter Zugrundelegung dessen konnte sich der Berichterstatter davon überzeugen, dass die Kläger bereits seit der Trennung ihrer Eltern im Frühjahr 2021 und auch im streitgegenständlichen Zeitraum (allein) bei ihrem Vater gelebt haben im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 UVG. Die für sich genommen zwar eher zurückgenommene, hierdurch aber nicht weniger glaubhafte Schilderung des Vaters, er habe „für die Kinder alles gemacht“ – beispielsweise die tägliche Hygiene einschließlich des Wickelns und die Wäsche –, sie zur Kita gebracht, an Elternabenden teilgenommen und mit ihnen zusammen den Spielplatz besucht, deckt sich mit den ebenfalls glaubhaften Angaben der Mutter. Diese hat in der mündlichen Verhandlung anschaulich und nachvollziehbar berichtet, sie sei nach ihrem psychischen Zusammenbruch im April 2021 und (jedenfalls) bis zu ihrem Auszug aus der Wohnung im September 2022 gesundheitlich außerstande gewesen, ihre Kinder zu ertragen (!). Betreuungs- und Erziehungsaufgaben habe sie in dieser Zeit nicht übernehmen können; gemeinsame Aktivitäten mit dem Vater und/oder den Kindern hätten nicht stattgefunden. In der Wohnung habe sie möglichst wenig Zeit verbracht, sondern sich „dort rausgezogen“ und eine gewisse Distanz zu ihren Kindern geschaffen, für die sie „nicht mehr so greifbar“ gewesen sei. Dass es sich hierbei um eine Gefälligkeitsaussage zugunsten der Kläger bzw. des Vaters handelt, erachtet der Berichterstatter angesichts der von der Mutter in der Verhandlung authentisch zum Ausdruck gebrachten emotionalen Betroffenheit über die damalige Entfremdung von ihren Kindern für ausgeschlossen. Weiter fließt in die Überzeugungsbildung ein, dass die Mutter dem Vater Anfang Juni 2022 eine umfassende Sorgerechtsvollmacht erteilt und sowohl im familiengerichtlichen Sorgerechtsverfahren (…) als auch im vorliegenden Verfahren erklärt hat, zwischen den Elternteilen habe von vornherein Einigkeit über die alleinige Ausübung und Übertragung der Sorge auf den Vater bestanden. Dieser hat zudem ausweislich des im Prozesskostenhilfeverfahren eingereichten grundsicherungsrechtlichen Leistungsbescheids im Zeitraum von Juni bis November 2022 Kindergeld für beide Kläger bezogen, was – wie ausgeführt – eine Aufnahme in Haushalt voraussetzt und die Annahme einer Alleinerziehung insofern untermauert. Gleiches gilt für die Gewährung eines Mehrbedarfs für Alleinerziehende durch das Jobcenter (…).
Die Einwände der Beklagten führen nicht zu einer anderen Bewertung. Soweit sie aus den Angaben im Scheidungsantrag ableiten will, die Elternteile hätten zumindest in Bezug auf die Versorgung und Betreuung der Kinder miteinander agiert, ist dem in Anbetracht des Ergebnisses der mündlichen Verhandlung (vgl. vorstehend) nicht zu folgen. Im Übrigen beschränkt sich das Vorbringen im Wesentlichen auf die Erwägung, eine Alleinerziehung durch den Vater bzw. ein dauerndes Getrenntleben der Elternteile (hierzu noch unter b)) sei wegen der fortbestehenden Lebensmittelpunkte in der gemeinsamen Wohnung nicht vorstellbar, und lässt damit den erforderlichen Einzelfallbezug vermissen. Der Beklagten mag zuzugeben sein, dass ein Sachverhalt wie der hier streitgegenständliche – nämlich das längere Getrenntleben der Eltern innerhalb derselben Wohnung – Anlass gibt zu einer näheren und kritischen Prüfung der Anspruchsvoraussetzung des § 1 Abs. 1 Nr. 2 UVG, im Rahmen derer eine persönliche Anhörung der Elternteile geboten sein kann. Die Größe der Wohnung und die sonstigen räumlichen Gegebenheiten stellen dabei allerdings nur ein Indiz dar, das nicht per se höher zu gewichten ist als andere für die Feststellung des Lebens bei einem der Elternteile maßgebliche Kriterien und insofern deren pauschale Außerachtlassung rechtfertigt.
b) Ein über die Alleinerziehung hinaus notwendiges dauerndes Getrenntleben des alleinerziehenden Elternteils liegt vor, wenn im Verhältnis zu dem Ehegatten oder Lebenspartner – bei dem es sich um den anderen Elternteil handeln kann, jedoch nicht muss – keine häusliche Gemeinschaft besteht und (mindestens) ein Ehegatte/Lebenspartner bzw. Elternteil die Herstellung der Lebensgemeinschaft ablehnt (§ 1 Abs. 2 UVG i.V.m. § 1567 Abs. 1 Satz 1 BGB). Dies war bei den Eltern der Kläger zur Überzeugung des Berichterstatters der Fall. Aus der schriftlichen Klagebegründung und den übereinstimmenden Ausführungen der Eltern in der mündlichen Verhandlung geht hervor, dass beide nach der Trennung im Frühjahr 2021 in verschiedenen Zimmern der Wohnung geschlafen, je für sich eingekauft, nicht miteinander gegessen, ferngesehen oder sonst ihre Freizeit verbracht und getrennte Konten geführt haben. Hierin liegt eine klare Separierung der Lebensbereiche, die die Anforderungen des § 1 Abs. 2 UVG i.V.m. § 1567 Abs. 1 Satz 1 BGB erfüllt (…). Die von der Mutter erwähnte gelegentliche Mitbenutzung der Waschmaschine ist demgegenüber von untergeordneter Bedeutung und außerdem nicht als wechselseitige Erbringung von Versorgungsleistungen anzusehen bzw. mit der Besorgung der Wäsche für den Vater gleichzusetzen, die auf eine gemeinschaftliche Haushaltsführung hindeuten könnte (…). Zweifel an einer „absolut“ getrennten Haushaltsführung, wie sie die Beklagte in der mündlichen Verhandlung ohne weitere Erläuterung geltend gemacht hat, entbehren danach – abgesehen davon, dass das Erfordernis einer getrennten Haushaltsführung derlei graduellen Abstufungen nicht zugänglich sein dürfte – einer belastbaren Grundlage.
Entgegen der Auffassung der Beklagten ist auch nicht deshalb von einem Zusammenleben der Eltern der Kläger auszugehen (und ein dauerndes Getrenntleben des Vaters dementsprechend zu verneinen), weil beide einen bzw. ihren Lebensmittelpunkt bis zum Auszug der Mutter in derselben Wohnung hatten. Es ist schon zweifelhaft, ob die in der Klageerwiderung zitierte Rechtsprechung, die jeweils die von § 1567 BGB nicht erfasste Frage des Zusammenlebens unverheirateter Elternteile im Sinne von § 1 Abs. 3 Alt. 1 UVG betrifft (…), auf den vorliegenden Fall übertragen werden kann (…). Zumindest aber unterliefe eine solche Auslegung § 1 Abs. 2 UVG i.V.m. § 1567 Abs. 1 Satz 2 BGB, wonach ein anspruchsbegründendes dauerndes Getrenntleben auch innerhalb der ehelichen Wohnung möglich ist. Es liegt auf der Hand, dass eine „nebeneinander“ genutzte Wohnung für Getrenntlebende in aller Regel den Lebensmittelpunkt bildet – ebenso wie etwa für Mitglieder einer Wohngemeinschaft, die ersichtlich nicht familiär oder familienähnlich zusammenleben. Um nicht den Verweis auf § 1567 Abs. 1 Satz 2 BGB eines praktischen Anwendungsbereichs weitgehend zu berauben, bedarf es daher auch im Fall von in derselben Wohnung liegenden Lebensmittelpunkten des alleinerziehenden und des nicht erziehenden Elternteils einer Einzelfallprüfung des dauernden Getrenntlebens (…). Diese führt hier selbst dann zur Feststellung der Anspruchsvoraussetzung, wenn man den dem Unterhaltsvorschussgesetz fremden Begriff einer „(faktisch) vollständigen Familie“ als Prüfungsmaßstab anlegt und hierdurch in fragwürdiger Weise die Merkmale der Alleinerziehung und des dauernden Getrenntlebens miteinander vermengt. Denn unter den in der mündlichen Verhandlung glaubhaft beschriebenen Umständen handelte es sich bei den Klägern und ihren Eltern im streitgegenständlichen Zeitraum nicht mehr um eine „vollständige“ Familie, in der beide Elternteile zur Versorgung, Betreuung und Erziehung der Kinder beigetragen haben. Vielmehr war der Vater insoweit trotz des fortbestehenden Lebensmittelpunkts der Mutter in der ehelichen Wohnung auf sich allein gestellt und befand sich damit in einer Situation, die in der von der Beklagten angeführten Rechtsprechung dem Zusammenleben als „(faktisch) vollständige Familie“ gegenübergestellt wird (…).
2. Die Ansprüche der Kläger sind schließlich nicht nach § 1 Abs. 3 Alt. 1 UVG ausgeschlossen; die Vorschrift hat im hier gegebenen Fall des dauernden Getrenntlebens (noch) miteinander verheirateter Elternteile keinen über die Anspruchsvoraussetzung des § 1 Abs. 1 Nr. 2 UVG hinausgehenden Regelungsgehalt (…).“
Zusammenfassung:
Ein dauerndes Getrenntleben miteinander verheirateter Elternteile iSd § 1 Abs. 1 Nr. 2 UVG ist nicht schon deshalb zu verneinen, weil beide ihren Lebensmittelpunkt weiterhin in derselben Wohnung haben.