Inobhutnahme bei drohendem sexuellen Missbrauchs und fehlender familiengerichtlicher Entscheidung
OVG Münster 20.4.2023 – 12 B 313/23
Aus dem Sachverhalt:
Das Jugendamt nahm Kinder wegen der Gefahr eines sexuellen Missbrauchs durch die Mutter, die Kinderpornografie konsumierte und in Chats ihre Vorstellungen über einen Missbrauch ihrer Kinder äußerte, in Obhut. Das anschließend angerufene Familiengericht wies im einstweiligen Anordnungsverfahren im späteren Verlauf darauf hin, dass der Grad der Wahrscheinlichkeit für eine Schädigung der Kinder inzwischen aufgrund eines Therapiebeginns der Mutter soweit herabgesetzt sei, dass eine Trennung von Eltern und Kindern nicht mehr verhältnismäßig wäre. Gleichwohl traf es keine Entscheidung über den einstweiligen Verbleib der Kinder, weil es sich hieran aufgrund der bestehenden Inobhutnahmen gehindert sah.
Das Verwaltungsgericht, das von den Eltern der Kinder angerufen wurde, wies die Anträge aufgrund der Rechtmäßigkeit der Inobhutnahme ab. Es machte darauf aufmerksam, dass die Inobhutnahmen aufgrund einer dringenden Gefährdung erforderlich seien. Auch wenn die ASt., die ihr Verhalten inzwischen selbst als krank erkannt habe, bereit sei, sich in Therapie zu begeben, sei die Gefahr, dass es tatsächlich zu sexuellen Übergriffen komme, derzeit trotz der Involvierung verschiedener Stellen (insb. des Jugendamts) noch nicht auf ein hinnehmbares Maß reduziert. Da das Familiengericht über den Verbleib der Kinder nicht entschieden habe, läge auch kein Vorrang einer familiengerichtlichen Entscheidung gegenüber den Inobhutnahmen vor.
Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Eltern.
Aus den Gründen:
(…) „Das Verwaltungsgericht hat ausgeführt, es sei nicht zweifelhaft, dass weiterhin eine Fremdunterbringung der Kinder der Antragsteller erforderlich sei, um eine dringende Gefahr für das Wohl der Kinder i. S. d. § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII abzuwenden. Im elterlichen Haushalt sei das Wohl der Kinder gefährdet, weil diesen ein sexueller Missbrauch durch die Antragstellerin drohe, der gravierende physische und psychische Schäden zur Folge haben könne. Dass den Kindern der Antragsteller bei einer Rückkehr in den elterlichen Haushalt ein solcher Missbrauch drohe, habe das Amtsgericht Dorsten – Familiengericht – im Beschluss vom 30. Januar 2023 (…) überzeugend dargelegt. Die Antragstellerin habe nicht nur kinderpornographisches Bildmaterial konsumiert (auf ihrem Mobiltelefon seien 362 Bild- und 35 Videodateien mit kinderpornographischen Darstellungen festgestellt worden), sondern sich auch im Internet mit Chatpartnern detailliert über sexuellen Kindesmissbrauch ausgetauscht. Diese Nachrichten hätten darin gegipfelt, dass die Antragstellerin konkrete Phantasien über den Missbrauch ihrer eigenen Kinder geäußert habe. Mit Blick auf diese Phantasien und vor dem Hintergrund, dass die Antragstellerin bereits in der Vergangenheit einen inadäquaten Sexualpartner (einen Hund) in ihr tatsächliches Sexualleben einbezogen habe, sei eine weitere Steigerung dahingehend zu befürchten, dass die Antragstellerin künftig sexuelle Handlungen an ihren Kindern vornehme.
Dies gelte jedenfalls solange, wie die Antragstellerin ihre sexuellen Neigungen noch nicht in einer Therapie aufgearbeitet habe. Es deute nichts darauf hin, dass es dem Antragsteller möglich sei, die Kinder wirksam vor einem sexuellen Missbrauch durch die Antragstellerin zu schützen, und zwar auch dann nicht, wenn er die Unterstützung seiner im Haushalt lebenden volljährigen Kinder habe. Denn es erscheine ausgeschlossen, dauerhaft sicherzustellen, dass die Antragstellerin zu keinem Zeitpunkt mit einem ihrer Kinder allein sei, zumal der Antragsteller aus beruflichen Gründen (er übe Montagetätigkeiten aus) häufig nicht zu Hause sei. Soweit zur Antragsbegründung auf die Möglichkeit verwiesen werde, dass die Antragstellerin aus der ehelichen Wohnung ausziehen könne, sei dies bislang nicht geschehen und scheine auch jedenfalls kurzfristig nicht beabsichtigt zu sein.
Diese umfassende – und anhand eines zutreffenden und mit der Rechtsprechung in Einklang stehenden Maßstabs – getroffene Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts wird durch das Beschwerdevorbringen der Antragsteller nicht durchgreifend in Frage gestellt.
Der Hinweis, der Antragstellerin, sie sei wegen ihrer Straftaten zwischenzeitlich durch das Schöffengericht zu einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 6 Monaten verurteilt worden und die Strafe sei zur Bewährung – mit Therapieauflage – ausgesetzt worden, ändert an der dezidiert begründeten Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts nichts. Gleiches gilt für ihren Einwand, „seit dem Tag der Hausdurchsuchung“ habe sie „mit den Ermittlungsbehörden zusammengearbeitet“ und sie sei auch „im Hinblick auf die in Obhut genommenen Kinder vollumfänglich kooperationswillig“ gewesen. Dass weder „die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft noch die im familiengerichtlichen Verfahren beteiligten Institutionen (…) den anfänglich bestehenden Tatverdacht auf sexuellen Missbrauch der in Obhut genommenen Kinder im Ansatz bestätigt“ habe, zeigt nicht ansatzweise auf, warum die – auch vom Amtsgericht ausführlich dargelegten – Umstände für eine entsprechend konkrete Gefahrenlage für die minderjährigen Kinder der Antragsteller nicht (mehr) gegeben sind. Die Behauptung der Antragsteller, „eine mögliche Kindeswohlgefährdung“ sei „auszuschließen“, ist spekulativ.
Der Einwand der Antragsteller, das Familiengericht Dorsten weise „in seiner Entscheidung vom 27.01.2023 zutreffend darauf hin, dass nach derzeitigem Forschungsstand kein einfachmonokausaler Zusammenhang“ bestehe, „dass der Konsum von Kinderpornographie in sexuelle Übergriffe mit Körperkontakt“ münde, verfängt nicht. Er übersieht bereits die in diesem Zusammenhang erfolgten weiteren Ausführungen des Amtsgerichts Dorsten – Familiengericht – in seinem Beschluss vom 27. Januar 2023 (…), wonach der Umkehrschluss, das von Konsumenten kein konkretes Risiko eines Übergriffs ausgehe, ebenfalls nicht zulässig sei. Ungeachtet dessen hat das Amtsgericht weiter ausgeführt, dass es bei der Antragstellerin ohnehin nicht beim reinen Konsum von Bildmaterial geblieben sei. Ihre Gedanken hätten sich in Chats manifestiert. Dies stelle eine gewisse Entwicklung dar, denn für einen solchen Austausch in Chats müssten vorab gleichgesinnte Chatpartner gesucht und gefunden werden. Die Chatnachrichten seien schließlich in der Einbeziehung der eigenen Kinder gegipfelt. Weiterhin habe die Kindesmutter gezeigt, dass sie in der Vergangenheit bereits einen inadäquaten Sexualpartner (nämlich einen Hund) in ihr tatsächliches Sexualleben einbezogen habe. Im Fall der Antragstellerin ist insofern schon eine andere Sachlage als der alleinige „Konsum“ von Kinderpornographie gegeben.
Soweit die Beschwerde moniert, das Jugendamt habe „weniger beschränkende Maßnahmen der Gefahrenabwehr“ nicht geprüft, und darauf verweist, dass „mit dem Kindesvater (…) zu keinem Zeitpunkt entsprechende Gespräche geführt worden“ seien, zeigt auch dies eine Fehlerhaftigkeit der Gefahreneinschätzung durch das Verwaltungsgericht nicht auf. Zutreffend – und in Übereinstimmung mit dem Familiengericht – weist das Verwaltungsgericht darauf hin, dass ein ausreichender Schutz der minderjährigen Kinder der Antragsteller nicht dauerhaft sichergestellt sei, zumal der Antragsteller aus beruflichen Gründen (er übe Montagetätigkeiten aus) häufig nicht zu Hause sei. Der Einwand der Antragsteller, es sei „abstrus und moralisch verwerflich“, dem Antragsteller „jetzt vorzuhalten, er hätte sich selbst um den Umzug seiner Ehefrau kümmern müssen, ohne dass ihm aufgezeigt“ werde, „was die Antragstellerin dann“ gedenke zu tun, ist für die Frage der Gefährdungsbeurteilung unbeachtlich. Auch mit dem übrigen Beschwerdevorbringen zeigen die Antragsteller keine belastbaren Anhaltspunkte für eine anderweitige Gefahrenprognose auf.
Dass – entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts – eine Trennung von Eltern und Kindern nicht mehr verhältnismäßig wäre, legen die Antragsteller mit ihrem Beschwerdevorbringen ebenso wenig dar. Das Verwaltungsgericht hat ausgeführt, die Auffassung des Familiengerichts, der Grad der Wahrscheinlichkeit für einen Schadenseintritt sei inzwischen soweit herabgesetzt, dass eine Trennung von Eltern und Kindern nicht mehr verhältnismäßig sei, werde nicht geteilt. Es verkenne nicht, dass die bereits seit etwa einem Jahr andauernde Trennung von ihren Kindern für die Antragsteller eine große Belastung bedeute und mit einem gewichtigen Eingriff in ihr verfassungsrechtlich durch Art. 6 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz geschütztes Recht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder verbunden sei. Dieser erhebliche Grundrechtseingriff sei jedoch mit Blick auf die schwerwiegenden Gefahren weiterhin gerechtfertigt, mit denen eine Rückkehr in den elterlichen Haushalt für die Kinder der Antragsteller verbunden sei. Weil ein potentiell drohender sexueller Übergriff gravierende und folgenschwere Schäden für die Kinder habe, seien nur geringe Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts zu stellen.
Auch wenn die Antragstellerin, die ihr Verhalten inzwischen selbst als krank erkannt habe, bereit sei, sich in Therapie zu begeben, sei die Gefahr, dass es tatsächlich zu sexuellen Übergriffen komme, derzeit trotz der Involvierung verschiedener Stellen (insbesondere des Jugendamts) noch nicht auf ein hinnehmbares Maß reduziert. Denn es erscheine nicht gewährleistet, dass die Antragstellerin sich durch eine Überwachung durch das Jugendamt und sonstige Stellen von Übergriffen auf ihre Kinder abhalten lasse. Wenn erfolgte Übergriffe aufgrund der Überwachung bekannt würden, könne dies einen erlittenen sexuellen Missbrauch und den durch ihn verursachten Schaden für die Kinder nicht ungeschehen machen.
Diese Ausführungen werden durch das Beschwerdevorbringen nicht durchgreifend in Frage gestellt. (…)“
Soweit die Beschwerde geltend macht, das Familiengericht habe „als das vorrangig zuständige Fachgericht eindeutig formuliert, dass die weitere Trennung von Eltern und Kindern nicht mehr gerechtfertigt ist“, bindet die zugrunde liegende rechtliche Würdigung des Familiengerichts weder das Jugendamt der Antragsgegnerin noch das Verwaltungsgericht im Streit um die Rechtmäßigkeit der Inobhutnahme. Zwar verdeutlichen die Vorschriften des § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b, Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 SGB VIII, dass die Inobhutnahme gegenüber familiengerichtlichen Entscheidungen grundsätzlich nachrangig ist.
Aus diesem generellen prozeduralen Nachrang ist indes nicht abzuleiten, dass die rechtliche Einschätzung des Familiengerichts zur Unverhältnismäßigkeit einer – mit der Trennung der Eltern von den Kindern verbundenen – Entziehung des Sorgerechts eine Bindungswirkung für die Frage der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit einer Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII auslöst. (…)“
Zusammenfassung:
- Weil ein potentiell drohender sexueller Übergriff gravierende und folgenschwere Schäden für Kinder hat, sind nur geringe Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts zu stellen.
- Zur – hier bejahten – Gefahr, dass weiterhin eine Fremdunterbringung der in Obhut genommenen Kinder erforderlich ist, um eine dringende Gefahr für das Wohl der Kinder i. S. d. § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB 8 abzuwenden. Hinsichtlich des Vorliegens einer dringenden Gefahr im Sinne von dieser Norm bindet die zugrunde liegende rechtliche Würdigung des Familiengerichts weder das Jugendamt der Antragsgegnerin noch das Verwaltungsgericht im Streit um die Rechtmäßigkeit der Inobhutnahme. Zwar verdeutlichen die Vorschriften des § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b, Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 SGB 8, dass die Inobhutnahme gegenüber familiengerichtlichen Entscheidungen grundsätzlich nachrangig ist.
- Aus diesem generellen prozeduralen Nachrang ist indes nicht abzuleiten, dass die rechtliche Einschätzung des Familiengerichts zur Unverhältnismäßigkeit einer – mit der Trennung der Eltern von den Kindern verbundenen – Entziehung des Sorgerechts eine Bindungswirkung für die Frage der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit einer Inobhutnahme nach § 42 SGB 8 auslöst.