Keine Rückführung eines aus der Ukraine entführten Kindes
OLG Stuttgart Beschluss vom 13.10.2022 – 17 UF 186/22
Aus dem Sachverhalt:
Gegenstand des Verfahrens ist das Begehren des Ast. auf Rückführung seiner Tochter K, geb. 2021, in die Ukraine nach den Bestimmungen des Haager Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung vom 25.10.1980 (HKÜ). Der Ast. und die Ag. sind getrennt lebende Eheleute und die gemeinsam sorgeberechtigten Eltern des Kindes K. Bis zum 2.3.2022 lebten die Beteiligten zusammen in einer Wohnung in O. in der Ukraine. Bei Fliegeralarm flüchteten sie sich mit K ins Auto und verbrachten die Nacht in der Tiefgarage. Am 2.3.2022 verließ die Ag. mit K die gemeinsame Wohnung und begab sich ohne das Einverständnis des Ast. nach Deutschland, um hier mit dem Kind auf längere Zeit zu bleiben.
Mit seinem am 27.7.2022 beim AG Stuttgart eingegangenen Antrag begehrt der Ast. die Rückführung des Kindes K in die Ukraine. Er trägt vor, die Ag. habe mit dem Verbringen von K nach Deutschland ohne seine Zustimmung sein Mitsorgerecht verletzt, weshalb das Kind unverzüglich in die Ukraine zurückzuführen sei. Ein Fall des Art. 13 Abs. 1 Buchst. b HKÜ liege nicht vor. Er sei bereit, für die Kindesmutter und K eine Wohnung anzumieten und ihr Geldzahlungen zukommen zu lassen. Die Ag. trägt vor, es sei zu gefährlich, das Kind in ein Kriegsgebiet zurückzuführen.
Das AG hat Frau X zum Verfahrensbeistand für K bestellt. Die Angelegenheit wurde am 26.8.2022 mit den Beteiligten in einem Termin erörtert. Die Amtsrichterin hat sich am 26.8.2022 einen persönlichen Eindruck von K verschafft.
Das AG Stuttgart hat die Anträge zurückgewiesen. Das AG hat zur Begründung insbesondere ausgeführt, dass eine Anordnung der Rückführung des Kindes nicht in Betracht komme, da vorliegend aufgrund der kriegerischen Auseinandersetzungen in der Ukraine die Härteklausel des Art. 13 Abs. 1 Buchst. b HKÜ eingreife. Gegen diesen Beschluss wandte sich der Ast. mit seiner Beschwerde. Er begehrte weiterhin die Rückführung in die Ukraine bzw. die Herausgabe des Kindes, hilfsweise das Verbringen des Kindes in die Republik Moldau. Die Beschwerde war erfolglos.
Aus den Gründen:
„(…) 1. Zu Recht hat das AG in den Gründen des angefochtenen Beschlusses ausgeführt, dass auf das Begehren des Ast. auf Rückführung des Kindes K die Vorschriften des HKÜ anwendbar sind.
Nicht zu beanstanden sind die Ausführungen des AG, wonach die Ag., der die elterliche Sorge für K mit dem Ast., ihrem Ehemann, gemeinsam zusteht, durch die Ausreise mit dem Kind aus der Ukraine, wo das Kind zuvor seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, nach Deutschland am 2.3.2022 den Tatbestand des widerrechtlichen Verbringens nach Art. 12 Abs. 1, Art. 3 HKÜ verwirklicht hat. Auch ist das AG zu Recht davon ausgegangen, dass der Ast. dem Verbringen des Kindes nach Deutschland nicht zugestimmt und das Verbringen auch nicht nachträglich genehmigt hat Art. 13 Abs.1 Buchst. a HKÜ) und dass, schon angesichts des geringen Alters des Kindes, die Voraussetzungen des Art. 13 Abs. 2 HKÜ nicht vorliegen.
Der Senat teilt die Einschätzung des AG, dass nachgewiesen ist, dass eine Rückführung von K in die Ukraine mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden wäre (Art. 13 Abs. 1 Buchst. b HKÜ).
Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Bestimmung Art. 13 Abs. 1 Buchst. b HKÜ nach allgemeiner Ansicht unter Berücksichtigung des Zwecks des HKÜ, eine zügige Sorgerechtsentscheidung durch die Gerichte des Staates zu ermöglichen, in dem das Kind sich vor der Entführung mit dem Willen aller Sorgeberechtigter gewöhnlich aufgehalten hat, restriktiv auszulegen ist (…). Erforderlich ist daher eine über die mit jeder Rückführung verbundenen Belastungen hinausgehende, besonders schwerwiegende Beeinträchtigung des Kindeswohls (…). Dies entspricht auch der Rechtsprechung des Senats (…), an der dieser weiter festhält.
Jedoch ist in Rechtsprechung und Literatur anerkannt, dass die Voraussetzungen der Härteklausel vorliegen, wenn das Kind in ein Kriegs- oder Bürgerkriegsgebiet zurückgeführt werden soll und dort eine konkrete Gefahr für das Kind besteht (…).
Auch dies entspricht der Rechtsprechung des Senats (…).
Auf ältere Gerichtsentscheidungen, die eine Rückführung eines Kindes in die Ukraine ausgesprochen oder bestätigt haben, kann seit dem Beginn der Kriegshandlungen in diesem Land im vorliegenden Zusammenhang nicht mehr zurückgegriffen werden.
Sollte zusätzlich zu fordern sein, dass die durch den Krieg bedingte Gefährdungslage „das ganze Land“ betreffen muss (…), so wäre vorliegend auch diese Voraussetzung erfüllt.
Zu Recht hat das AG ausgeführt und näher begründet, dass es sich bei dem gesamten Staatsgebiet der Ukraine seit dem 24.2.2022 um ein Kriegsgebiet handelt. (…)
Von Beginn der militärischen Auseinandersetzung in der Ukraine an wurden durch Russland in erheblichem Umfang Raketen und sonstige Distanzwaffen eingesetzt, die keineswegs nur die östlichen Bereiche der Ukraine, sondern gerade auch Ziele in den westlichen Landesteilen getroffen haben. (…)
Welche Bereiche und welche gegebenenfalls auch zivilen Ziele, auch in der Westukraine, einschließlich des Bereichs um Odessa, künftig getroffen werden, kann nicht vorhergesagt werden. Raketeneinschläge dort sind jederzeit möglich und auch wahrscheinlich.
Hinzu kommt, dass die Gesamtentwicklung der Auseinandersetzung bei derzeit fehlenden konkreten Aussichten für eine friedliche Konfliktbeilegung insgesamt die Tendenz zur weiteren Eskalation erkennen lässt. Es muss daher damit konkret gerechnet werden, dass im gedachten Fall einer nun durchgeführten Rückführung des Kindes in kurzer Zeit in der Ukraine für K eine noch gefährlichere Situation entsteht.
Weiter ist zu beachten, dass die Gefährdung höchstrangige Rechtsgüter des Kindes betrifft. Angesichts der Kriegshandlungen ist nicht nur mit einer Verängstigung des noch nicht zwei Jahre alten Kindes oder mit einer unzureichenden ärztlichen Versorgung zu rechnen, sondern mit einer konkreten Gefahr für das Leben des Kindes.
Die vorgenannten Gesichtspunkte können ohne Weiteres jeweils aktuellen Medienberichten entnommen werden und sind allgemeinkundig. Weiterer Nachweise durch die Antragsgegnerseite bedarf es zu deren Feststellung nicht.
Bei einer Gesamtwürdigung aller Umstände gelangt auch der Senat zu der Einschätzung, dass im Fall einer Rückführung bezogen auf das gesamte Gebiet der Ukraine für K die schwerwiegende Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens besteht. Es entspricht gerade der Wertung des HKÜ, dass in einem derartigen Ausnahmefall die Rückgängigmachung einer Kindesentführung hinter höherrangigen Zielen, wie dem Schutz des Lebens und der Gesundheit des Kindes, zurückstehen muss. (…)
Auch dem im Beschwerdeverfahren gestellten Hilfsantrag des Ast., K in die Republik Moldau zurückzuführen, kann nicht entsprochen werden. Die Vorschrift des Art. Art. 12 HKÜ rechtfertigt einen derartigen Ausspruch nicht.
Bereits bei einer Zusammenschau der Vorschriften des HKÜ unter besonderer Berücksichtigung des Art. 4 HKÜ („unmittelbar vor einer Verletzung des Sorgerechts“, „gewöhnlicher Aufenthalt in einem Vertragsstaat“) liegt es nahe, dass Gegenstand des Ausspruchs nach Art. 12 Abs. 1 HKÜ die Rückführung des Kindes gerade in den Staat seines bisherigen gewöhnlichen Aufenthalts ist.
Dass die Rückführung in das Land des bisherigen gewöhnlichen Aufenthalts zu erfolgen hat, wird auch in der Rechtsprechung vertreten (…).
Soweit teilweise für besondere Konstellationen eine Einschränkung dieses Grundsatzes erwogen wird (…), gemeinsame Ausreise der Eltern in einen anderen Staat und Entführung des Kindes in einen Drittstaat) liegt eine solche hier nicht vor. Die Kriegsereignisse in der Ukraine rechtfertigen, auch unter Berücksichtigung des Zwecks des HKÜ, keine andere Bewertung.
Aus Sicht des Senats ist im vorliegenden Fall ausschlaggebend, dass nach dem Grundgedanken des HKÜ (Art. 1 Buchst. a HKÜ; Grundsatz des „status quo ante“) in dem Staat, in den das Kind zurückgeführt werden soll, umgehend eine gerichtliche Entscheidung über den weiteren Aufenthalt des Kindes ermöglicht werden soll (…). Dies ist nur in dem Staat möglich, dessen Gerichte hierfür international zuständig sind. Die Gerichte der Republik Moldau wären vorliegend für ein Verfahren über die elterliche Sorge oder den Aufenthalt von K nicht international zuständig, da das Kind dort nicht seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.
Soweit die Ast. die Möglichkeit einer Vereinbarung der Eltern, etwa mit dem Ziel eines Aufenthalts des Kindes in einem anderen Staat wie der Republik Moldau, anspricht, ist darauf hinzuweisen, dass eine solche Einigung vor dem AG nicht zustande gekommen ist. Es erscheint zudem fraglich, ob eine solche Regelung sachgerecht wäre, zumal dort ein gerichtliches Verfahren zur Klärung der Aufenthaltsfrage möglicherweise nicht durchgeführt werden könnte. Zudem wäre der Ast. nach derzeitigem Stand ohnehin nicht in der Lage, aus der Ukraine in ein anderes Land auszureisen, um sich persönlich um K zu kümmern.“
Zusammenfassung:
- Der Rückführung eines von einem Elternteil nach Deutschland entführten minderjährigen Kindes in die Ukraine nach den Bestimmungen des Haager Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung vom 25.10.1980 (HKÜ) steht wegen der Kampfhandlungen in der Ukraine derzeit die Vorschrift des Art. 13 Abs. 1 Buchst. b HKÜ entgegen.
- Eine schwerwiegende Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für ein Kind im Sinne des Art. 13 Abs. 1 Buchst. b HKÜ besteht derzeit auf dem gesamten Staatsgebiet der Ukraine.