Jugendhilferechtliche Inobhutnahme eines Kindes bei bereits laufender familiengerichtlicher Befassung
VG Hannover, Beschluss vom 13. Februar 2023 – 3 B 446/23 –
Aus dem Sachverhalt:
(…) Die sorgerechtliche Situation in Bezug auf die beiden betroffenen Kinder war nach dem Ende des Anhörungstermins vor dem Familiengericht am 06.01.2023, der ausweislich des darüber gefertigten Protokolls sowohl zu dem Verfahren 12 F E. EAGS als auch zu dem Verfahren 12 F F. EAHK geführt worden war, für den Zeitraum der hier streitbefangenen Inobhutnahmen der beiden Kinder G. und H. vom 06.01. – 24.01.2023 nicht eindeutig.
In dem Verfahren 12 F F. EAHK hatte das Familiengericht zunächst mit Beschluss vom 22.12.2022 im Wege der einstweiligen Anordnung beschlossen, das Aufenthaltsbestimmungsrecht für die Kinder G. und H. auf die Kindesmutter zu übertragen. Weiterhin hatte es dem Antragsteller des vorliegenden Verfahrens in dem Beschluss aufgegeben, die Kinder bis zum 23.12.2022, 12.00 Uhr, an die Kindesmutter herauszugeben. Dieser Beschluss ist dem auch in den familiengerichtlichen Verfahren mandatierten Prozessbevollmächtigten des Antragstellers am 23.12.2022 zugegangen und der hiesige Antragsteller von diesem darüber jedenfalls am 27.12.2022 informiert worden. In dem Termin am 06.01.2023, an dem auch das Jugendamt der Antragsgegnerin teilgenommen hat, hat das Familiengericht ausweislich des Terminsprotokolls (dort S. 3) die Herausgabeanordnung vom 22.12.2022 „zunächst ausgesetzt“ und zum Ausdruck gebracht, dass „die Kinder … zunächst nicht herauszugeben“ seien. Zudem hat das Familiengericht darauf hingewiesen, dass im sorgerechtlichen Hauptsacheverfahren (I. SO) die Einholung eines Sachverständigengutachtens erforderlich erscheine, um aufzuklären, ob die von den Kindern (auch) gegenüber ihrem Verfahrensbeistand geäußerten massiven Gewaltvorwürfe gegen die Kindesmutter erlebnisbasiert oder vom Kindesvater manipulativ hervorgerufen seien. Nachdem das Jugendamt der Antragsgegnerin und der Verfahrensbeistand der Kinder darauf hingewiesen hatten, dass zur Vermeidung einer weiteren Beeinflussung der Kinder seitens der Elternteile eine Inobhutnahme der Kinder erforderlich sein könnte, hat das Familiengericht mitgeteilt, es werde die Kinder nunmehr persönlich anhören, den Beteiligten im Anschluss das Ergebnis der Anhörungen zugänglich machen und ihnen die Gelegenheit zur kurzfristigen Stellungnahme geben, dem Jugendamt auch zu der Frage, ob eine Inobhutnahme bzw. ein Teilentzug der elterlichen Sorge gemäß § 1666 BGB geboten erscheint. Das Terminsprotokoll endet mit der Wiedergabe der insoweit übereinstimmenden Anträge der Prozessbevollmächtigten der Kindeseltern im Verfahren 12 F F. EAHK, „die einstweilige Anordnung aufzuheben“ sowie des weitergehenden Antrags des Prozessbevollmächtigten des hiesigen Antragstellers, „den Antrag zurückzuweisen“. Dass das Familiengericht über diese Anträge am 06.01.2023 bereits eine Entscheidung getroffen hätte, ist dem Protokoll nicht zu entnehmen.
Auf der Basis dieses Terminsprotokolls ist für das erkennende Gericht nicht hinreichend eindeutig erkennbar, ob das Familiengericht am 06.01.2023 seine einstweilige Anordnung vom 22.12.2022 zumindest hinsichtlich der vorläufigen Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts auf die Kindesmutter letztlich aufrecht erhalten hatte oder nicht. Denn einerseits hat es laut Protokoll die „Herausgabeanordnung zunächst ausgesetzt“ und die Beteiligten ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Kinder „zunächst nicht herauszugeben“ seien. Das erscheint allerdings vor dem Hintergrund eines weiter bestehenden alleinigen Aufenthaltsbestimmungsrechts der Kindesmutter wenig nachvollziehbar. Andererseits macht aber auch die Aufnahme von Anträgen der Beteiligten zu der einstweiligen Anordnung – wobei aus Sicht des erkennenden Gerichts nur die Entscheidung vom 22.12.2022 gemeint sein kann – keinen Sinn, wenn diese aus Sicht des Familiengerichts insgesamt schon nicht mehr wirksam sein, bzw. sie bereits aufgehoben oder ausgesetzt sein sollte. Jedenfalls aber hätte es dann nahegelegen, zu diesen Anträgen sofort eine entsprechende Entscheidung zu verkünden. Im Zusammenhang mit der erst noch bevorstehenden Befragung der Kinder hatte sich das Familiengericht aber offenbar eine endgültige Entscheidung zur Weitergeltung seiner einstweiligen Anordnung vom 22.12.2022 noch vorbehalten wollen. Dafür spricht auch der Beschluss des Familiengerichts vom 24.01.2023 zum Verfahren 12 F F. EAHK, mit dem die einstweilige Anordnung vom 22.12.2022, soweit es die Regelung des Sorgerechts betrifft, ausdrücklich „aufrechterhalten“ worden ist.
Aus den Gründen:
„Ist damit die sorgerechtliche Rechtslage in Bezug auf eine Befugnis des hiesigen Antragstellers, die Kinder auch nach dem 06.01.2023 gegen den Willen der Kindesmutter in seiner alleinigen Obhut behalten zu können, unklar, kann das erkennende Gericht auch nicht mit hinreichender Sicherheit eine rechtliche Beurteilung vornehmen, ob der Antragsteller von den hier streitbefangenen Inobhutnahmen in einer Art und Weise in seinen Rechten betroffen war, dass ihm dagegen ein öffentlich-rechtlicher Abwehranspruch zustand. Nach der bisherigen Rechtsprechung der Kammer (…), über deren Aufrechterhaltung im Rahmen der hier nach § 161 Abs. 2 VwGO vom Berichterstatter zu treffenden Billigkeitsentscheidung nicht zu befinden ist, führt nämlich bereits der Verlust des Aufenthaltsbestimmungsrechts dazu, dass der davon betroffene Elternteil eine Verletzung in eigenen Rechten durch eine Inobhutnahme des betreffenden Kindes vor dem Verwaltungsgericht nicht mehr geltend machen kann.
Auf der anderen Seite bestehen allerdings gegen die Rechtmäßigkeit der Inobhutnahmen insofern erhebliche rechtliche Bedenken, als es das Jugendamt der Antragsgegnerin versäumt hat, vor deren Vornahme im Rahmen des familiengerichtlichen Termins am 06.01.2023 gemäß § 42 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 SGB VIII auf eine – eindeutige – familiengerichtliche Entscheidung zum weiteren Aufenthalt der Kinder hinzuwirken. Dass der Antragsteller mit einem Zugriff des Jugendamtes auf die Kinder und deren auch nur vorübergehenden Fremdunterbringung einverstanden sein könnte, war nach der aus den Akten der Antragsgegnerin ersichtlichen Vorgeschichte und dem protokollierten Verlauf des Termins am 06.01.2023 erkennbar ausgeschlossen. Deshalb musste dem Jugendamt der Antragsgegnerin klar sein, dass der Kindesvater einem Zugriff auf die Kinder im Wege der Inobhutnahme unmittelbar widersprechen und damit im Nachgang eine unverzügliche Anrufung des Familiengerichts gemäß § 43 Abs. 3 Satz 2 SGB VIII erforderlich sein würde. In einer solchen Situation ist das Jugendamt aber im Umkehrschluss aus § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 b) SGB VIII verpflichtet, alles ihm Mögliche zu unternehmen, um bereits vor der Durchführung einer Inobhutnahme eine familiengerichtliche Entscheidung herbeizuführen. Angesichts dessen reichte es nicht aus, dass das Jugendamt der Antragsgegnerin in dem familiengerichtlichen Termin am 06.01.2023 eine mögliche Inobhutnahme der Kinder nur in den Raum stellte, ohne eine sofortige familiengerichtliche Entscheidung über den weiteren Aufenthalt der Kinder einzufordern, zumal es offenbar eine solche Inobhutnahme unmittelbar nach dem Termin bereits konkret in Aussicht genommen hatte, um zu verhindern, dass der Antragsteller wie bereits zuvor mit den Kindern „untertauchen“ und dadurch einen sorgerechtlichen oder jugendhilferechtlichen Zugriff auf sie verhindern würde. Dabei hätte das Jugendamt das Familiengericht auf den Regelungsinhalt des § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 3 SGB VIII konkret hinweisen und ihm verdeutlichen müssen, dass es angesichts der aktuell bereits laufenden unmittelbaren Befassung des Familiengerichts wegen § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 b) SGB VIII gehindert wäre, für den Fall, dass das Gericht keine sorgerechtliche (Zwischen-)Entscheidung treffen sollte, im Anschluss eine Inobhutnahme durchzuführen, und es deshalb in der gegebenen Situation von Gesetzes wegen in der alleinigen Verantwortung des Familiengerichts lag, über den vorläufigen weiteren Verbleib der Kinder eine sofortige Entscheidung zu treffen. Diese Entscheidung, wie immer sie ausfiele, hätte das Jugendamt im Folgenden hinzunehmen und wäre nicht berechtigt, eine aus seiner Sicht fachlich falsche Entscheidung des Familiengerichts mittels einer unmittelbar anschließenden Inobhutnahme zu überspielen.
Die fachliche Einschätzung des Jugendamtes, dass bezüglich der Kinder am 06.01.2023 angesichts des vorangegangenen Verhaltens des Antragstellers und des auch im Termin erneut offenbar gewordenen tiefgehenden Konflikts zwischen den Kindeseltern bei einem Verbleib der Kinder im familiären System eine konkrete Kindeswohlgefährdung in Form einer weiteren Vertiefung der bereits deutlich erkennbaren Loyalitätskonflikte der Kinder in Bezug zu den Eltern vorlag, ist dagegen bei summarischer Würdigung nicht zu beanstanden. (…).“
Zusammenfassung:
- Ist das Familiengericht bereits aktiv mit der Gestaltung der sorgerechtlichen Verhältnisse zwischen den Kindeseltern befasst, ist das Jugendamt, wenn es einen weiteren Verbleib der betroffenen Kinder bei einem der Elternteile als kindeswohlgefährdend ansieht, gehalten, insoweit eine sofortige (vorläufige) Entscheidung des Familiengerichts einzufordern.
- Tut es das nicht oder trifft das Familiengericht gleichwohl keine sofortige Entscheidung, ist das Jugendamt grundsätzlich nicht berechtigt, die Kinder gegen den elterlichen Willen unmittelbar im Anschluss an einen familiengerichtlichen Erörterungstermin in Obhut nehmen.