Zur Anhörung eines vierjährigen Kindes im Umgangsverfahren
BGH, Beschluss vom 31. Oktober 2018 – XII ZB 411/18 –, juris
Aus dem Sachverhalt der Entscheidung:
Die Beteiligte zu 2 (im Folgenden: Mutter) wendet sich gegen den vom Oberlandesgericht angeordneten, unbegleiteten Umgang zwischen dem Beteiligten zu 3 (im Folgenden: Vater) und dem im Juni 2014 geborenen, gemeinsamen Kind L. Sie begehrt die einstweilige Aussetzung der Vollziehung aus dem angefochtenen Beschluss bis zur Entscheidung über ihre – bereits eingelegte, aber noch nicht begründete – Rechtsbeschwerde, soweit es den zukünftigen Umgang anbelangt. Hilfsweise beantragt die Mutter, einstweilen anzuordnen, dass zwischen dem Vater und seinem Sohn L. nur ein begleiteter Umgang am Wohnort des Kindes stattfindet. Sie begründet ihren Eilantrag damit, dass die Entscheidung auf einer unzureichenden Sachaufklärung durch das Oberlandesgericht beruhe, weil es das Kind nicht angehört habe.
Aus den Gründen:
(…)
„Die Anträge sind jedoch unbegründet“.
Zunächst erörterte der Bundesgerichtshof den Prüfungsmaßstab des pflichtgemäßen Ermessens im Rahmen einer einstweiligen Anordnung:
„Das Rechtsbeschwerdegericht hat über die beantragte einstweilige Anordnung nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. Dabei sind die Erfolgsaussichten des Rechtsmittels und die drohenden Nachteile für den Rechtsbeschwerdeführer gegeneinander abzuwägen (…). Die Aussetzung der Vollziehung einer Umgangsregelung, die durch das Beschwerdegericht bestätigt worden ist, wird danach regelmäßig nur in Betracht kommen, wenn das Rechtsmittel Aussicht auf Erfolg hat oder die Rechtslage zumindest zweifelhaft ist (…).
Daran fehlt es hier.
Die Rechtsbeschwerde gegen die gemäß § 40 Abs. 1 FamFG mit Bekanntgabe an die Beteiligten vollziehbare Umgangsregelung hat nach der gebotenen summarischen Prüfung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. Die Rechtslage ist im Hinblick auf die getroffenen Feststellungen auch nicht zweifelhaft.
Da der Bundesgerichtshof als Rechtsbeschwerdegericht grundsätzlich an die Feststellungen des Oberlandesgerichts gebunden ist, fasst er diese in seiner Entscheidung kurz zusammen:
„Das Oberlandesgericht, auf dessen in NZFam 2018, 931 veröffentlichten Entscheidung insgesamt Bezug genommen wird, hat das Absehen von der Anhörung des zum Zeitpunkt des angegriffenen Beschlusserlasses vierjährigen Kindes damit begründet, dass eine Anhörung von L. nicht ohne eine ihn zusätzlich schädigende Beeinflussung durch die Mutter stattfinden und diese Anhörung nicht zu einer weiteren Sachverhaltsaufklärung beitragen könne. Der Mutter, die ihr Kind anordnungswidrig nicht zum ersten Anhörungstermin mitgebracht habe, seien für den Fall, dass sie L. zum erneut angesetzten Anhörungstermin nicht mitbringe, Zwangsmaßnahmen angedroht worden. Gleichwohl habe sie auch dieser Anordnung nicht Folge geleistet, weshalb zur Herbeiführung der persönlichen Anhörung nur noch die Möglichkeit bestanden habe, die Anhörung von L. nunmehr mit Zwangsmitteln durchzusetzen. Damit würde aber der dargestellte gesetzgeberische Zweck der Kindesanhörung in sein Gegenteil verkehrt, weil die Mutter das Wohl von L. gänzlich aus dem Blick verloren habe, ihn zur Verhinderung einer erfolgreichen Anhörung weiter manipulieren, in einen Loyalitätskonflikt bringen, einschüchtern und sein inneres Gleichgewicht beschädigen werde, während durch seine erzwungene Anhörung auch keine weitere Sachaufklärung zu erwarten sei. Die Weigerung der Mutter, L. zum Anhörungstermin mitzubringen, sei prozesstaktisch motiviert, um eine zeitnahe kindeswohldienliche gerichtliche Entscheidung zur Umgangsregelung zu verhindern, und folge ihrem Bestreben, mit allen Mitteln einen Umgang zu verhindern. Schon dem beim Amtsgericht anberaumten Anhörungstermin sei die Mutter mit L. ferngeblieben; sie habe auch die Anhörung von L. durch den Verfahrensbeistand in H. abgelehnt. Tragfähige Gründe gebe es für diese Verweigerungshaltung nicht. Entgegen der von der Mutter vertretenen Auffassung sei L. reisefähig gewesen und hätte deshalb zum Termin erscheinen können. Das Verhalten der Mutter zeige, dass sie den Kontakt von L. mit Dritten verhindere, sofern sie die Situation nicht kontrollieren könne und befürchten müsse, dass die Wahrheit sichtbar werde. Die Mutter habe der gerichtlich veranlassten Untersuchung von L. beim Amtsarzt zur Feststellung seiner Reisefähigkeit von Anfang an entgegengewirkt, ihn damit schließlich verunsichert und eine geordnete Untersuchung gezielt vereitelt. Das Gesamtverhalten der Mutter lasse nur den Schluss zu, dass sie – wie auch sonst – eine Aufklärung durch den Amtsarzt habe verhindern wollen und auch bereit sei, hierfür L. einzusetzen und zu schädigen. Damit stehe aber fest, dass, sofern die Anhörung erzwungen werde, die Mutter L. mit der gleichen Intention wie beim Amtsarzt manipulieren und hierzu Leid zufügen werde, damit er so eingeschüchtert sei, dass er nicht angehört werden könne.“
Aufgrund des eindringlich zuvor geschilderten sieht der BGH einen Grund, der es ausnahmsweise gebietet, von der ansonsten erforderlichen Anhörung des Kindes abzusehen:
„Damit liege ein schwerwiegender Grund vor, von der Anhörung des vierjährigen Kindes gemäß § 159 Abs. 3 FamFG abzusehen. Bei einer Anhörung im Umfeld der Mutter würde diese Einflussnahme durch die Mutter ebenfalls stattfinden, weshalb auch eine Anhörung am Heimatort nicht zielführend sei. Der drohenden Beeinflussung durch die Mutter könne auch nicht durch den Einsatz von Zwangsmitteln entgegengewirkt werden. Im Hinblick darauf, dass das Wohl von L. aufgrund der Haltung der Mutter zu der beabsichtigten Anhörung konkret gefährdet sei, sei dem Schutz des Kindes gegenüber dem Interesse an einer weiteren Sachaufklärung der Vorrang einzuräumen. Überdies habe L. seinen Willen gegenüber den Beteiligten deutlich zum Ausdruck gebracht; er genieße und erlebe den Kontakt zum Vater als bereichernd und habe sich erkundigt, wann er ihn wiedersehen könne.“
Das Oberlandesgericht hat auch keine Aufklärungspflichten verletzt:
„Dies hält der – in ihrem Antrag auf einstweilige Aussetzung der Vollziehung erhobenen – Aufklärungsrüge der Mutter stand.
Allerdings ist in Kindschaftsverfahren – wie auch das Oberlandesgericht richtig gesehen hat – gemäß § 159 FamFG grundsätzlich eine Anhörung des betroffenen Kindes geboten.
Auch wenn das Kind das 14. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, ist es gemäß § 159 Abs. 2 FamFG insbesondere dann persönlich anzuhören, wenn die Neigungen, Bindungen oder der Wille des Kindes für die Entscheidung von Bedeutung sind. Diese Kriterien sind gewichtige Gesichtspunkte des Kindeswohls. Weil sämtliche im Gesetz aufgeführten Aspekte in Verfahren betreffend das Umgangsrecht einschlägig sind, ist eine Anhörung auch des noch nicht 14 Jahre alten Kindes nach der Rechtsprechung des Senats regelmäßig erforderlich (…).
Die persönliche Anhörung dient neben der Gewährung des rechtlichen Gehörs vor allem der Sachaufklärung. Es ist Aufgabe des Gerichts, das Verfahren, insbesondere die Umstände sowie die Art und Weise der Kindesanhörung, unter Berücksichtigung des Alters, des Entwicklungsstands und der sonstigen Fähigkeiten des Kindes so zu gestalten, dass das Kind seine persönlichen Beziehungen zu den Eltern erkennbar werden lassen kann. In der Regel wird eine Entscheidung den Belangen des Kindes nur dann gerecht, wenn es diese Möglichkeit hat. Wegen fehlender Äußerungsfähigkeit wird nur bei sehr jungen Kindern (…) oder bei aufgrund besonderer Umstände erheblich eingeschränkter Fähigkeit des Kindes, sich zu seinem Willen und seinen Beziehungen zu äußern, auf die Anhörung verzichtet werden können. Selbst wenn das Kind seine Wünsche nicht unmittelbar zum Ausdruck bringen kann, ergeben sich möglicherweise aus dem Verhalten des Kindes Rückschlüsse auf dessen Wünsche oder Bindungen (…).
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts steht das Umgangsrecht eines Elternteils unter dem Schutz des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG. Es ermöglicht dem umgangsberechtigten Elternteil, sich von dem körperlichen und geistigen Befinden des Kindes und seiner Entwicklung fortlaufend persönlich zu überzeugen, die verwandtschaftlichen Beziehungen zu ihm aufrechtzuerhalten, einer Entfremdung vorzubeugen und dem Liebesbedürfnis Rechnung zu tragen (…). Der Grundrechtsschutz beeinflusst auch weitgehend die Gestaltung und Anwendung des Verfahrensrechts. Zwar muss auch in Verfahren mit Amtsermittlungsgrundsatz dem erkennenden Gericht überlassen bleiben, welchen Weg es im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften für geeignet hält, um zu den für seine Entscheidung notwendigen Erkenntnissen zu gelangen. Das Verfahren muss aber grundsätzlich geeignet sein, eine möglichst zuverlässige Grundlage für eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung zu erlangen (…). Dabei bleibt es grundsätzlich den Fachgerichten überlassen, wie sie den Willen des Kindes ermitteln (…)“
Schließlich geht der Senat ausführlich auf die Belastungen ein, die angesichts des Verhaltens der Mutter für das Kind entstehen würden:
Allerdings kann die Belastung für das Kind ausnahmsweise ein Grund sein, von der Anhörung abzusehen (…). Denn nach § 159 Abs. 3 Satz 1 FamFG kann aus schwerwiegenden Gründen von der persönlichen Anhörung des Kindes abgesehen werden.
Eine mögliche Belastung des Kindes durch die Anhörung ist vom Gericht gegen die Vorteile, die diese Art der Sachverhaltsaufklärung bietet, abzuwägen. Sollten die Belastungsmomente überwiegen, kann die Anhörung gemäß § 159 Abs. 3 Satz 1 FamFG unterbleiben (…). Von einer persönlichen Anhörung kann danach abgesehen werden, wenn die Gefahr besteht, dass das Kind hierdurch in einer mit seinem Wohl nicht zu vereinbarenden Weise psychisch belastet wird (…) bzw. wenn die Anhörung des Kindes zu einer erheblichen Beeinträchtigung seiner körperlichen oder seelischen Gesundheit führen würde (…). Regelmäßig setzt die Entscheidung über das Absehen von einer Anhörung die Abwägung der Kindesinteressen mit der Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts (§ 26 FamFG) voraus. Je bedeutsamer der Eingriff in die Rechtssphäre des Kindes ist, umso stärker ist die Pflicht zur Anhörung (…). Im Rahmen der Interessenabwägung ist auch zu berücksichtigen, inwieweit es möglich ist, durch die Auskunft anderer Verfahrensbeteiligter, wie etwa des Verfahrensbeistands, des Umgangs- bzw. Ergänzungspflegers oder eines Mitarbeiters des Jugendamts, zu erfahren, ob der Umgang dem Kindeswohl entspricht.
Gemessen hieran ist unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des vorliegenden Einzelfalls rechtsbeschwerderechtlich nichts dagegen zu erinnern, dass das Oberlandesgericht von einer Anhörung des vierjährigen Kindes abgesehen hat. Das Oberlandesgericht hat die verfahrensrechtlichen Anforderungen gesehen und zutreffend auf den Fall angewandt. Dabei halten sich seine Ausführungen im Rahmen seines – der Überprüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht entzogenen – tatrichterlichen Ermessens.“ (…)
Die weiteren Ausführungen lassen erkennen, dass die Mutter das Kindeswohl völlig aus dem Blick verloren hat und ihr Handeln Ausfluss einer pauschalen Negativhaltung gegenüber dem Kindesvater sind:
„Der gutachterlichen Stellungnahme vom 21. August 2018 ist unter anderem zu entnehmen, dass die Mutter eine pauschale Negativhaltung gegenüber dem Vater entwickelt und eine Feindbildprojektion hat. Anhaltspunkte für eine pädophile Neigung des Vaters hätten sich in der bisherigen Begutachtung nicht ergeben. Es bestehe der Verdacht, dass die Mutter projektiv eigene Enttäuschungen und Kränkungen im Umgang mit dem Vater auf das Kind richte und dadurch Übergriffe und Traumata unterstelle, die nicht stattgefunden hätten. Die Mutter stelle den Vater pauschal infrage; dies führe offenbar bei ihr zu einer legitimierten Haltung, die Rolle des Vaters zu negieren. Nach bisheriger Einschätzung führe das zu einem schwerwiegenden und dem Kindeswohl abträglichen Loyalitätskonflikt bei L. Dies decke sich mit dem Bericht der Klinik. Die Mutter versteife sich auf die unbewiesene Annahme, dass vom Vater Traumatisierung und sexuelle Übergriffe gegenüber dem Kind ausgegangen seien. Die bisherige Begutachtung habe hierfür keine Belege geliefert. Die Mutter scheine sich in einer „symbiotischen Beziehungsstruktur gegenüber ihrem Kind zu befinden, um L. gegenüber dem Vater zu schützen“. Hier entwickle sich eine Eigendynamik, die dazu führe, dass die Bedeutung des Vaters für das Kind negiert werde und L. vermutlich einer Manipulation durch die Kindesmutter ausgesetzt sei. Zusammenfassend hat der Gutachter ausgeführt, insgesamt müsse davon ausgegangen werden, dass die Mutter aufgrund einer narzisstischen und symbiotischen Struktur das Kind als Selbstobjekt funktionalisiere und in ihrem Konflikt auf der Paarebene gegenüber dem Vater entfremde.
Der aufgrund des bisherigen Verhaltens der Mutter zu erwartenden Belastungen stehen – bezogen auf den vorliegenden Einzelfall – keine nennenswerten Vorteile durch die Anhörung gegenüber. Das Oberlandesgericht hat im Wege der Amtsermittlung nach § 26 FamFG hinreichend belastbare Feststellungen durch die Auskunft der Ergänzungspflegerin und der Umgangsbegleiterin getroffen. Danach haben die bisher durchgeführten Umgangskontakte dem Kind gut getan. Hierauf beruhend hat das Oberlandesgericht in rechtlich nicht zu beanstandender Weise gefolgert, dass es im – auch verfassungsrechtlich geschützten – Interesse des Kindes liegt, zeitnah weiteren Umgang mit seinem Vater zu haben.“ (…)
Zusammenfassung:
- Im einstweiligen Anordnungsverfahren sind die Erfolgsaussichten des Rechtsmittels und die drohenden Nachteile für den Rechtsbeschwerdeführer gegeneinander abzuwägen. Die Aussetzung der Vollziehung einer Umgangsregelung, die durch das Beschwerdegericht bestätigt worden ist, wird danach regelmäßig nur in Betracht kommen, wenn das Rechtsmittel Aussicht auf Erfolg hat oder die Rechtslage zumindest zweifelhaft ist.
- Auch ein erst vierjähriges Kind ist in einem Umgangsrechtsverfahren grundsätzlich von dem Gericht persönlich anzuhören. Ausnahmsweise darf das Gericht von der Anhörung des Kindes aus schwerwiegenden Gründen absehen. Das ist regelmäßig der Fall, wenn die Anhörung des Kindes zu einer erheblichen Beeinträchtigung seiner körperlichen oder seelischen Gesundheit führen würde.
- Um die Frage beantworten zu können, ob die persönliche Anhörung des Kindes unterbleiben kann, muss vom Tatrichter eine Interessenabwägung vorgenommen werden. Dabei ist auch zu berücksichtigen, inwieweit es möglich ist, durch die Auskunft anderer Verfahrensbeteiligter, wie etwa des Verfahrensbeistands, des Umgangs- bzw. Ergänzungspflegers oder eines Mitarbeiters des Jugendamts, zu erfahren, ob der Umgang dem Kindeswohl entspricht.