Zum Umstandsmoment im Rahmen der Verwirkung
OLG Brandenburg 11.6.2020 – 9WF 138/20
Die vorgenannte Entscheidung knüpft an die hier bereits dargestellte Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 31.1.2018 – XII ZB 133/17 zu den Voraussetzungen für die Annahme einer Verwirkung von Unterhaltsansprüchen an.
Aus dem Sachverhalt:
Im vorliegenden Verfahren macht das antragstellende Land für die Zeit ab März 2017 übergegangene Unterhaltsansprüche aus einer Unterhaltsverpflichtung des Ag. gegenüber seinen beiden minderjährigen Kindern wegen der Zahlung von Unterhaltsvorschuss geltend. Im Streit ist zwischen den Beteiligten insoweit allein, inwieweit eine (jedenfalls teilweise) Verwirkung dieser übergegangenen Unterhaltsansprüche vorliegt.
Aus den Gründen:
Die Ausführungen des Gerichtes zu dem sogenannten Umstandsmoment erfolgten im Rahmen des Verfahrenskostenhilfeverfahrens, in welchem maßgeblich die Erfolgsaussichten in der Sache zu berücksichtigen sind:
„Der Anspruch aus dem übergeleiteten Recht ist allerdings nicht – wie das Amtsgericht im Ergebnis zu Recht erkannt hat – verwirkt, weshalb es an den Aussichten für eine erfolgreiche Rechtsverteidigung des Ag. fehlt und ihm daher durch das Amtsgericht zu Recht die begehrte VKH gem. § 113 Absatz 1 FamFG, § 114 ZPO entsprechend versagt worden ist. Es fehlt an dem Vorliegen des (für einen Verwirkungstatbestand zwingend notwendigen) Umstandsmoments.
a. Bei dem Rechtsgedanken der Verwirkung (§ BGB § 242 BGB) kommt es in erster Linie auf das Verhalten des Berechtigten, nicht des Verpflichteten an. Mit der Verwirkung soll die illoyal verspätete Geltendmachung von Rechten gegenüber dem Verpflichteten ausgeschlossen werden. Zur Annahme der Verwirkung muss für den Schuldner ein vom Gläubiger gesetzter besonderer Vertrauenstatbestand vorliegen, der vom Schuldner konkret darzulegen und im Bestreitensfall zu beweisen ist (…). Dabei ist das Verhalten des Berechtigten nach objektiven Gesichtspunkten zu beurteilen. Maßgeblich ist, ob der Titelschuldner dem Verhalten des Gläubigers bei objektiver Beurteilung entnehmen konnte, dass dieser sein Recht nicht mehr geltend machen würde, ob er sich also darauf einrichten durfte, dass er mit einer Rechtsausübung durch den Berechtigten nicht mehr zu rechnen hat (…).
Der Vertrauenstatbestand kann dabei nicht durch bloßen Zeitablauf geschaffen werden (…).
Auch wenn der Gläubiger davon absieht, sein Recht ganz oder teilweise weiterzuverfolgen, kann dies für den Schuldner nur dann berechtigterweise Vertrauen auf eine Nichtgeltendmachung hervorrufen, wenn das Verhalten des Gläubigers Grund zu der Annahme gebe, er werde den Unterhaltsanspruch nicht mehr geltend machen, insbesondere weil er seinen Rechtsstandpunkt aufgegeben habe (…).
Der Schuldner muss also aufgrund konkreter vom Gläubiger gesetzter Verhaltensweisen berechtigterweise davon ausgehen dürfen, es werde nichts mehr kommen (…).
b. Ein solches besonderes Vertrauen ist insbesondere nicht aufgrund des Schreibens des Jugendamts an den Ag. vom 5.5.2017 geschaffen worden. Darin lautet es insbesondere:
„Aus Ihren eingereichten Einkommensnachweisen ergibt sich vorerst ein monatlich zu zahlender Unterhalt von 102 € für beide Kinder.“
Soweit der Ag. meint, er habe aufgrund dieser Formulierung darauf vertrauen dürfen, dass er über den genannten Betrag von 102 EUR hinaus nicht mehr in Anspruch genommen werde, trägt dies nicht. Die gewählte Formulierung zeigt deutlich für jeden – auch den nicht juristisch versierten – Bet., dass es sich um eine vorläufige Einschätzung betreffend der Höhe des Unterhalts handelt. Erst recht kann daraus nicht der Schluss gezogen werden, dass Land wolle auf weitere – über 102 EUR hinausgehende – übergegangene Unterhaltsansprüche endgültig verzichten, dh, diese nie mehr einfordern wollen.
Schon von daher ist das Schreiben vom 5.5.2017 nicht geeignet, die hohen Anforderungen, die an die Schaffung eines Vertrauenstatbestands zu stellen sind, zu erfüllen. Erst recht folgt dies aus dem Umstand, dass das Jugendamt dann nachfolgend auch ausdrücklich darauf hinweist, dass der Ag. keinen Steuerbescheid vorgelegt habe und dass dieser bei der nächsten Abforderung einzureichen sei. Dadurch gibt das Jugendamt klar zu erkennen, dass eine abschließende Berechnung der Einkünfte des Ag. jedenfalls zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht möglich war. Dies steht der Annahme eines Vertrauenstatbestands evident entgegen.
Anders als der Ag. meint, bedarf es auch nicht eines Vorbehalts einer Nachforderung. Insoweit irrt er darüber, dass erst einmal ein – hier eben nicht vorliegender – Vertrauenstatbestand geschaffen werden müsste, den sodann ein Vorbehalt von Rechten außer Kraft setzen könnte. In allgemeiner Hinsicht ist ein Gläubiger aber nicht verpflichtet, ihm zustehende Ansprüche durch aktive Maßnahmen wie zB deren regelmäßige Geltendmachung (…) oder einen Vorbehalt von Rechten sich erhalten zu müssen.
Der vom Ag. insoweit erhobene Einwand der Verwirkung ist also nicht geeignet, sich seiner gesetzlichen Verpflichtung zur Zahlung des Mindestunterhalts (§ 1601 ff., § 1612 a, 1612 b BGB) an seine beiden minderjährigen Kinder – hier im Wege übergeleiteter Unterhaltsansprüche – zu entziehen.“
Zusammenfassung:
Zwar ist seit der Entscheidung des BGH vom 31.1.2018 auch für das Unterhaltsrecht geklärt, dass dem Umstandsmoment eine selbstständige Bedeutung bei der Prüfung der Voraussetzungen einer Verwirkung zukommt.
Wenig klar ist nach wie vor hingegen, wann ein Gericht das Umstandsmoment als erfüllt ansieht.
Das OLG Brandenburg ist im Hinblick auf die Formulierung „vorerst“ sowie auf den Hinweis, dass „bei der nächsten Anforderung von Unterlagen“ auch der Steuerbescheid vorzulegen sei, der Auffassung, dass kein Vertrauenstatbestand für den Schuldner geschaffen worden sei; er habe mit einer höheren Zahlungspflicht rechnen müssen.
Zudem hält der Senat einen Gläubiger nicht für verpflichtet, ihm zustehende Ansprüche regelmäßig aktiv geltend zu machen.
Da nicht abzusehen ist, wie die Rechtsprechung Zweifelsfälle künftig entscheiden wird, erscheint es indes ratsam auch weiterhin im Jahresrhythmus nachweislich deutlich zu machen, dass die Forderung nach wie vor zu bezahlen ist.