Zugangsvermutung bei Beauftragung eines privaten Postdienstleisters
BFH, Urteil vom 14. Juni 2018, III R 27/17
Aus dem Sachverhalt:
Streitig ist, ob die Klage fristgerecht erhoben worden ist.
Die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) wies den gegen den Kindergeldablehnungsbescheid vom 30. April 2013 gerichteten Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 5. November 2015 als unbegründet zurück. Auf der Einspruchsentscheidung ist vermerkt: „abgesandt am: 06.11.2015“ (Freitag). Nach Auskunft der Familienkasse wurde die versandfertige Ausgangspost am Freitag zwischen 12:30 Uhr und 13:00 Uhr durch den Kurierdienst, einen Subunternehmer der X (Y), abgeholt.
Gegen den ablehnenden Bescheid in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 5. November 2015 erhob der Kläger und Revisionskläger (Kläger) am 10. Dezember 2015 Klage. Im Klageverfahren trug er vor, dass die Einspruchsentscheidung ihm erst am 12. November 2015 zugegangen sei.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage wegen Versäumung der Klagefrist durch Prozessurteil ab. Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens war das FG davon überzeugt, dass die Einspruchsentscheidung von der Familienkasse am 6. November 2015 zur Post gegeben worden war.
Dem Kläger sei es im Übrigen nicht gelungen, die gesetzliche Vermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO) zu entkräften, nämlich dass die Einspruchsentscheidung drei Tage nach der Aufgabe zur Post am Montag, dem 9. November 2015 zugegangen sei. Insbesondere fehle es an einem substantiierten Tatsachenvortrag des Klägers zu einem verspäteten Zugang der Einspruchsentscheidung. So genüge die alleinige Behauptung, dass der Verwaltungsakt verspätet zugegangen sei, nicht. Das gelte auch bei der Beförderung durch einen privaten Zustelldienst (…). Dem Kläger hätte es im Hinblick auf den von ihm behaupteten atypischen Postlauf von sechs Tagen oblegen, eine entsprechende Beweisvorsorge zu treffen.
Der Kläger stützt seine Revision unter anderem auf die Verletzung des Art. 19 Abs. 4 und Art. 101 Abs. 1 des Grundgesetzes und beantragt sinngemäß, das Urteil des FG aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen.
Aus den Gründen:
„Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO). Denn die tatsächlichen Feststellungen des FG reichen nicht aus, um die Zulässigkeit der Klage beurteilen zu können. Es kann insbesondere nicht ausgeschlossen werden, dass der Kläger die Klagefrist gewahrt hat. (…)“
Im Grundsatz hat die Behörde den Zugang eines von ihr übersandten Schriftstückes zu beweisen:
Nach § 47 Abs. 1 FGO beträgt die Frist für die Erhebung der Anfechtungsklage einen Monat; sie beginnt mit der Bekanntgabe der Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf. Die Entscheidung kann auch durch die Post übermittelt werden (§ 366 AO i.V.m. § 122 Abs. 2 AO). Die Entscheidung gilt gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben, außer wenn sie nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Im Zweifel hat die Behörde den Zugang des Verwaltungsaktes und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen.
Im vorliegenden Fall war allerdings nicht der Zugang strittig, sondern die Frage, des Zeitpunkts, an welchem der Bescheid zugegangen war. Gilt wie vorliegend die Vermutung für einen Zeitpunkt, genügt ein einfaches Bestreiten dieses Zeitpunktes nicht, um die Vermutung zu widerlegen:
Bestreitet der Steuerpflichtige nicht den Zugang des Schriftstücks überhaupt, sondern behauptet er lediglich, es nicht innerhalb des Dreitageszeitraums des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO erhalten zu haben, hat er sein Vorbringen im Rahmen des Möglichen zu substantiieren, um Zweifel an der Dreitagesvermutung zu begründen. Er muss Tatsachen vortragen, die den Schluss zulassen, dass ein anderer Geschehensablauf als der typische –Zugang binnen dreier Tage nach Aufgabe zur Post– ernstlich in Betracht zu ziehen ist. Es genügt nicht schon einfaches Bestreiten, um die gesetzliche Vermutung über den Zeitpunkt des Zugangs des Schriftstücks zu entkräften. Es müssen vielmehr Zweifel berechtigt sein, sei es nach den Umständen des Falles, sei es nach dem schlüssig oder jedenfalls vernünftig begründeten Vorbringen des Steuerpflichtigen (…).
Das Erfordernis eines substantiierten Tatsachenvortrags darf allerdings nicht dazu führen, dass die Regelung über die objektive Beweislast, die nach dem Gesetz die Behörde trifft, zu Lasten des Steuerpflichtigen umgekehrt wird (…).“
Gemäß § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO entscheidet das Gericht auch diese Frage nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung:
„Hat der Kläger seinen Vortrag im Rahmen des ihm Möglichen substantiiert, hat das FG die Frage, ob „Zweifel“ daran bestehen, dass ihm die Einspruchsentscheidung innerhalb der Dreitagesfrist –hier spätestens am 9. November 2015– zugegangen ist, „nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung“ zu beantworten (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO). Dies schließt ein, dass die richterliche Überzeugung ihre Grundlage in dem Gesamtergebnis des Verfahrens haben muss. Das Gebot „freier“ Überzeugungsbildung verpflichtet damit das FG dazu, sich zunächst die geeigneten Grundlagen zu verschaffen, um sich darauf eine derartige Überzeugung bilden zu können. Hierzu gehört eine angemessene Aufklärung des maßgeblichen Sachverhalts (§ 76 FGO). Das Gericht darf insoweit Umstände, die zum Gegenstand des Verfahrens gehören, nicht ohne zureichenden Grund ausblenden. Der Zugang bleibt mithin Gegenstand der Sachaufklärungspflicht des FG.“
Sodann geht das Gericht speziell auf § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO ein:
Unter welchen näheren Voraussetzungen ein Gericht von der Bekanntgabe innerhalb des Dreitageszeitraums nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO überzeugt ist oder ob noch Zweifel am Zugang bestehen, lässt sich nicht allgemeingültig bestimmen, sondern ist Inhalt der jeweiligen tatrichterlichen Überzeugungsbildung (…). Diese ist grundsätzlich nach § 118 Abs. 2 FGO für die Rechtsmittelinstanz bindend. Sie kann im Revisionsverfahren nur darauf hin überprüft werden, ob das FG von einem unzureichend aufgeklärten Sachverhalt ausgegangen ist oder mit seiner Sachverhaltswürdigung gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verstoßen hat (…).
Diesen Maßstäben genügte das Urteil des Finanzgerichts nicht:
„Die vom FG im Streitfall vorgenommene Würdigung ist auch unter Berücksichtigung dieses eingeschränkten Prüfungsmaßstabs zu beanstanden. Das FG hat verfahrensfehlerhaft nähere Ermittlungen zum Zeitpunkt des Zugangs der streitgegenständlichen Einspruchsentscheidung unterlassen, obwohl sich entsprechende Ermittlungen aufdrängen mussten und ist insoweit zu Unrecht von der Zugangsfiktion nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO ausgegangen.
Zwar hat das FG zutreffend festgestellt, dass die Familienkasse die Einspruchsentscheidung am 6. November 2015 zur Post aufgegeben hat, indem diese dem Subunternehmer des privaten Zustelldienstes X übergeben wurde. Unter „Aufgabe zur Post“ i.S. des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO wird auch eine Übermittlung des Verwaltungsakts durch einen privaten Postdienstleister erfasst (…),
so dass der Tag der Aufgabe zur Post nicht hinausgeschoben wird. Es ist daher nicht zu beanstanden, dass das FG nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens unter Berücksichtigung der von der Familienkasse geschilderten Vorkehrungen zur Postversendung von einer „Aufgabe zur Post“ der Einspruchsentscheidung am 6. November 2015 ausgegangen ist.“
Problematisch war indes die Fiktion bezüglich des Zugangs:
„(…) Im vorliegenden Fall ergeben sich aber aus den besonderen Umständen des Falles Zweifel an dem typischen Geschehensablauf, dass das Schriftstück am dritten Tag nach Aufgabe zur Post (in C) den Empfänger (den Kläger in B) erreichen konnte. Zwar trifft es zu, dass es regelmäßig zunächst nur im Verantwortungsbereich des Absenders liegt, das zu befördernde Schriftstück den postalischen Bestimmungen entsprechend rechtzeitig zur Post zu geben, sodass es nach den organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen des Postdienstleisters den Empfänger innerhalb eines Dreitageszeitraums erreicht (…). Die Zugangsfiktion des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO kann sich dabei weiter auch auf schriftliche Verwaltungsakte erstrecken, die durch lizenzierte private Postdienstleister –zu denen auch der Postdienstleister X gehört– übermittelt werden, da die Zuverlässigkeitsprüfung durch die Regulierungsbehörde die Vermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO gewährleisten kann (…). Zu beachten ist aber, dass im Rahmen der Lizenzierung die Einhaltung konkreter Postlaufzeiten nicht geprüft wird (…).
Daher ist grundsätzlich zu ermitteln, ob nach den bei dem privaten Dienstleister vorgesehenen organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen regelmäßig von einem Zugang des zu befördernden Schriftstücks innerhalb von drei Tagen ausgegangen werden kann. Dies gilt insbesondere dann, wenn neben dem privaten Zustelldienst, der wie die X bei bundesweiten Zustellungen regelmäßig nur über Verbundgesellschaften tätig wird, ein weiteres Dienstleistungsunternehmen zwischengeschaltet wird. Insoweit kann die Einschaltung privater Postdienstleister bei der Frage von Bedeutung sein, ob die Zugangsvermutung als widerlegt gilt, weil hierdurch möglicherweise ein längerer Postlauf die Folge ist (…).
(…)Der Kläger hat auf diese besonderen Umstände im Streitfall hingewiesen. Weitere Ausführungen, um die Zugangsfiktion zu erschüttern, sind nach Ansicht des Senats bei der hier vorliegenden Sachverhaltskonstellation nicht erforderlich. (…)
Bei dieser Sachlage und im Hinblick auf den auf einen Freitag fallenden Postaufgabetag hätte das FG den organisatorischen und betrieblichen Ablauf beim Postdienstleister und seinem Subunternehmer weiter aufklären müssen.
(…) Der Familienkasse obliegt eine gewissenhafte Prüfung, ob eine Zustellung innerhalb des Dreitageszeitraums des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO durch den hier gewählten privaten Postdienstleister mit jedenfalls gleich hoher Verlässlichkeit zu erwarten ist wie bei einer Versendung im Rahmen des Postuniversaldienstes (..).“
Zusammenfassung:
- Unter „Aufgabe zur Post“ im Sinne des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO wird auch die Übermittlung eines Verwaltungsakts durch einen privaten Postdienstleister erfasst.
- Die Einschaltung eines privaten Postdienstleisters sowie die weitere Einschaltung eines Subunternehmers können für die Zugangsvermutung innerhalb der Dreitagesfrist von Bedeutung sein, weil hierdurch möglicherweise ein längerer Postlauf gegeben ist.
In diesen Fällen ist zu prüfen, ob nach den bei den privaten Dienstleistern vorgesehenen organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen regelmäßig von einem Zugang des zu befördernden Schriftstücks innerhalb von drei Tagen ausgegangen werden kann.