Übertragung der Gesundheitssorge auf die Mutter, um Masernimpfung ihres Kindes zum Zweck des Kindergartenbesuchs durchzuführen
AG Dieburg 7.12.2020 – 51 F 308/20 SO
Aus dem Sachverhalt:
Die Eltern des zwei Jahre alten […] streiten um die Durchführung der Standardschutzimpfungen für ihr Kind.
Die Eltern sind nicht verheiratet, üben jedoch aufgrund einer gemeinsamen Sorgeerklärung die elterliche Sorge gemeinsam aus. Die Eltern leben getrennt; […] hat seinen Lebensmittelpunkt bei der Mutter.
Die Mutter möchte […] impfen lassen, und zwar nach den Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO). Mit drei Jahren soll […] spätestens in den Kindergarten gehen; dort wird er jedoch nur aufgenommen, wenn er eine Masernimpfung vorweisen kann.
Die Eltern waren mehrmals gemeinsam bei der Kinderärztin von […] und haben über die empfohlenen Impfungen gesprochen. […] Da der Vater mit der Impfung seines Sohnes nicht einverstanden ist, hat er bei der Kinderärztin eine Erklärung unterzeichnet, dass er mit den Standardimpfungen nicht einverstanden ist.
Die Mutter gibt an, dass sie wieder arbeiten wolle und sie sich Kontakt von […] mit Gleichaltrigen wünsche, weshalb er spätestens mit drei Jahren in den Kindergarten gehen solle. Der Kindergarten würde die sozialen Kompetenzen von […] fördern. Die Kinderärztin habe empfohlen, […] wegen einiger Defizite so schnell wie möglich in die Krippe zu geben. Bis dahin müsse er aber zweimal im Abstand von mehreren Monaten geimpft werden, sonst werde er den Kindergarten nicht besuchen dürfen. Zudem halte sie Impfschutz für Kleinkinder für wichtig. Sie habe bereits nach der Geburt die jeweils empfohlenen Impfungen durchführen wollen.
Da der Vater seine Zustimmung zu den Impfungen verweigert, beantragt die Mutter, ihr die Entscheidungsbefugnis im Hinblick auf von der STIKO empfohlenen Schutzimpfungen zu übertragen.
Der Vater beantragt die Abweisung des Antrags.
Er halte nichts von Impfungen. Es gäbe Studien, dass geimpfte Kinder genauso oder sogar öfter krank würden als nicht geimpfte Kinder. Außerdem gäbe es keine Versicherung für Impfschäden. Bei […] bestünde zudem der Verdacht auf Autismus; seine Impffähigkeit müsste daher zunächst geprüft werden.
Der Vater gibt an, dass er arbeitslos sei, weshalb er […] betreuen könne, sodass keine Notwendigkeit bestünde, ihn im Kindergarten anzumelden. […]
Für […] wurde ein Verfahrensbeistand bestellt und im Termin am 28.8.2020 wurde mit den Eltern die Durchführung der Impfung erörtert. Das Jugendamt war beim Termin ebenfalls anwesend. […]
[…] [Der] Vater […] beantragte, ein medizinisches Sachverständigengutachten zum Beweis der Tatsache, dass das Kind […] derzeit nicht impffähig ist, einzuholen. […]
Aus den Gründen:
Eine Entscheidung nach § 1628 S. 1 BGB führt nicht dazu, dass das Familiengericht eine zwischen den Sorgeberechtigten streitige Frage in der Sache entscheidet; das Gericht entscheidet lediglich, welcher der Sorgeberechtigte in der Sache entscheiden soll.
II. Der Mutter war die Entscheidungsbefugnis über die Durchführung der durch die STIKO empfohlenen Impfungen nach § 1628 S. 1 BGB alleine zu übertragen.
Der Antrag ist zulässig und begründet.
Nach § 1628 Satz 1 BGB kann das Familiengericht, wenn sich die Eltern bei gemeinsamer elterlicher Sorge in einer einzelnen Angelegenheit oder in einer bestimmten Art von Angelegenheiten, deren Regelung für das Kind von erheblicher Bedeutung ist, nicht einigen können, auf Antrag eines Elternteils die Entscheidung einem Elternteil unter Wahrung des Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 GG übertragen. Das Familiengericht hat in diesem Fall den im Rahmen der Sorgerechtsausübung aufgetretenen Konflikt der Eltern zu lösen. Entweder ist die gegenseitige Blockierung der Eltern durch die Übertragung der Entscheidungsbefugnis auf einen Elternteil zu beseitigen oder durch Zurückweisung des Antrags die Angelegenheit beim gegenwärtigen Zustand zu belassen. Ein Eingriff in die – gemeinsame – elterliche Sorge nach § 1628 BGB ist nur insoweit zulässig, als das Gericht einem Elternteil die Entscheidungskompetenz überträgt, nicht hingegen darf das Gericht die Entscheidung anstelle der Eltern selbst treffen (…).
Die Eltern von […] haben sich in der Vergangenheit nicht darüber einigen können, ob […] geimpft werden soll. Diese Uneinigkeit der Eltern betrifft auch nicht eine Angelegenheit des täglichen Lebens, in welcher die Kindesmutter gemäß § 1687 Abs. BGB Satz 2 und 3 BGB allein entscheiden könnte, weil […] bei ihr lebt. Medizinische Eingriffe und Behandlungen werden mit der Ausnahme von Routineuntersuchungen oder häufig vorkommende nicht ungewöhnliche Erkrankungen wie Erkältungen oder gewöhnliche Kinderkrankheiten regelmäßig zu den Angelegenheiten von erheblicher Bedeutung für das Kind gezählt, weil sie mit der Gefahr von Komplikationen und Nebenwirkungen, mögen diese auch statistisch betrachtet gering sein, verbunden sind (…).
Für diese Entscheidungen von erheblicher Bedeutung ist das Einvernehmen der Eltern gemäß § 1687 Abs. 1 BGB erforderlich. Wenn dieses Einvernehmen von den Eltern nicht herbeigeführt werden kann, so ist das Entscheidungsrecht gemäß § 1628 BGB auf Antrag auf einen Elternteil zu übertragen.
Die aufgrund § 1628 BGB zu treffende Entscheidung richtet sich gemäß § 1697 a BGB nach dem Kindeswohl. Die Entscheidungskompetenz ist dem Elternteil zu übertragen, dessen Lösungsvorschlag dem Wohl des Kindes besser gerecht wird. Ob und inwiefern das Kindeswohl berührt ist, ist nach der Eigenart der zu regelnden Angelegenheit zu beurteilen, aus der sich auch die konkreten Anforderungen an die für die Entscheidung nach § 1628 BGB zu treffende Prüfung ergeben (…). Handelt es sich um eine Angelegenheit der Gesundheitssorge, so ist die Entscheidung zugunsten des Elternteils zu treffen, der im Hinblick auf die jeweilige Angelegenheit das für das Kindeswohl bessere Konzept verfolgt.
Vorliegend war das Entscheidungsrecht auf die Kindesmutter zu übertragen. Die Kindesmutter verfolgt das für das Kindeswohl bessere Konzept. Würde der Antrag der Kindesmutter zurückgewiesen, würde der Kindesvater die Zustimmung weiter verweigern und […] könnte nicht geimpft werden. Die Kindesmutter dagegen möchte die von der STIKO empfohlenen Impfungen bei […] durchführen lassen, soweit die behandelnde Kinderärztin dies für erforderlich und […] für impffähig hält.
Der Nutzen der streitgegenständlichen Impfungen überwiegt das Impfrisiko.
Die Impfempfehlungen der STIKO sind in der Rechtsprechung des BGH als medizinischer Standard anerkannt worden (…).
Impfungen dienen demnach dem Wohl des Einzelnen im Hinblick auf eine mögliche Erkrankung und in Bezug auf die Gefahr einer Weiterverbreitung dem Gemeinwohl. Auch mit dem letztgenannten Aspekt haben sie einen Bezug zum Schutz des individuellen Kindeswohls, weil das Kind – wenn es etwa noch nicht im impffähigen Alter ist – von der Impfung anderer Menschen, insbesondere anderer Kinder, und der damit gesenkten Infektionsgefahr profitiert.
Einen dem entgegenstehenden Erfahrungssatz hat der Kindesvater nicht aufgezeigt. Seine Behauptung, geimpfte Kinder würden genauso häufig oder häufiger krank als nicht geimpfte Kinder, hat er weder konkret dargelegt noch nachgewiesen. Es gibt keine Belege für diese Behauptung. Das RKI kommt zu dem Schluss, dass Krankheiten wie grippale Infekte, Mittelohrentzündungen oder Bronchitis weder wesentlich häufiger noch seltener bei geimpften Kindern auftreten (…). Selbst wenn die Behauptung des Kindesvaters der Wahrheit entspräche, haben diese Krankheiten weitaus weniger schwerwiegende Folgen für die Kinder als zum Beispiel Masern oder Polio. Die Behauptung des Kindesvaters alleine vermag bei dem Gericht keine Zweifel an der Einschätzung der STIKO hervorzurufen. (…)
Die Vorteile der Impfungen überwiegen die Nachteile für […]. Als Nachteil ist lediglich die Gefahr von Nebenwirkungen zu bewerten. Wie bereits ausführlich dargelegt, überwiegt der Nutzen jedoch dieses Risiko. Ein weiterer Vorteil der Impfungen – neben dem oben ebenfalls bereits dargestellten gesundheitlichen Aspekt – ist bezüglich der Masernimpfung die Aufnahme in einen Kindergarten. Seit dem 01.03.2020 gilt in Deutschland das Gesetz für den Schutz vor Masern und zur Stärkung der Impfprävention, nachdem Eltern nachweisen müssen, dass ihr Kind gegen Masern geschützt ist, bevor es in die Schule oder den Kindergarten geht. Ohne die Masernimpfung könnte […] also nicht in den Kindergarten gehen. Für seine soziale Entwicklung ist der Kindergarten jedoch förderlich. Im Kindergarten wird durch die pädagogische Betreuung der Kinder gewährleistet, dass die Entwicklung der Kinder in wichtigen Bereichen gefördert wird. Wahrnehmung, Sprache sowie Bewegung und Koordination, Denken, Emotionalität und Empathie werden spielerisch ausgebaut. Dies kann weder die Kindesmutter noch der Kindesvater zu Hause leisten. Auch der Kontakt zu anderen Kindern ist für […] wichtig.
(…) Die Entscheidung auf die Kindesmutter zu übertragen bedeutet auch nicht, dass […] wahllos und ohne Untersuchung auf seine Impffähigkeit geimpft wird. Die Kindesmutter hat sich in der Vergangenheit verantwortungsvoll gezeigt. Sie ist mit […] regelmäßig bei derselben Kinderärztin. Diese kennt seinen Gesundheitszustand und wird seine Impffähigkeit vor einer Impfung einschätzen. Auch wird vor der Impfung eine Aufklärung erfolgen.
Zusammenfassung:
Bei Impfungen handelt es sich nicht um eine Angelegenheit des täglichen Lebens, über die das Elternteil, bei dem das Kind lebt, gemäß § 1687 Abs. 1 Satz 2 und 3 BGB alleine entscheiden darf.