Sorgerechtsübertragung trotz umfangreicher Vollmacht
BGH, Beschluss vom 29. April 2020 – XII ZB 112/19 –
Aus dem Sachverhalt:
Die Beteiligten zu 1 und 2 sind die nicht miteinander verheirateten Eltern des im November 2012 geborenen Sohnes N. L. Sie streiten über das Sorgerecht.
Die 1974 geborene Kindesmutter ist kroatische Staatsangehörige, der 1956 geborene Kindesvater besitzt die Staatsangehörigkeit von Bosnien und Herzegowina. Beide leben seit geraumer Zeit in Deutschland und sind getrennt. Der Sohn hat – auch – die deutsche Staatsangehörigkeit. Er lebt bei der Kindesmutter, die inzwischen verheiratet ist.
Die Eltern gaben kurz nach der Geburt übereinstimmende Sorgeerklärungen ab. Sie führten in der Vergangenheit mehrere Verfahren, unter anderem zum Kindesunterhalt und zum Umgangsrecht. Im Jahr 2013 beantragte die Kindesmutter die Übertragung der elterlichen Sorge auf sich. Das Amtsgericht übertrug ihr in jenem Verfahren mit Zustimmung des Kindesvaters das alleinige Aufenthaltsbestimmungsrecht. Im Jahr 2016 beantragte die Kindesmutter erneut die Übertragung der vollständigen elterlichen Sorge. Das Verfahren wurde beendet, nachdem der Kindesvater ihr am 16. Februar 2017 eine vom Gericht protokollierte umfängliche Vollmacht erteilt hatte.
Im vorliegenden Verfahren hat die Kindesmutter wiederum beantragt, ihr das alleinige Sorgerecht zu übertragen. Sie beruft sich unter anderem darauf, dass es in verschiedenen Angelegenheiten trotz der erteilten Vollmacht zu Schwierigkeiten bei der Vertretung des Kindes gekommen sei und der Kindesvater anschließend trotz ihrer Bitten nicht mitgewirkt habe. Dieser ist der Meinung, dass es einer Übertragung des Sorgerechts wegen der im Vorverfahren erteilten Vollmacht, jedenfalls aber wegen einer weiteren, während des vorliegenden Verfahrens notariell beurkundeten Vollmacht vom 22. November 2017 nicht bedürfe.
Das Amtsgericht hat das Sorgerecht antragsgemäß der Kindesmutter übertragen. Auf die Beschwerde des Kindesvaters hat das Oberlandesgericht den Antrag der Kindesmutter zurückgewiesen. Dagegen richtet sich die zugelassene Rechtsbeschwerde der Kindesmutter, mit der sie ihren Antrag weiterverfolgt.
Aus den Gründen:
In der Praxis werden Sorgerechtsvollmachten vielfach als Alternative zu einer (teilweisen) Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge auf einen Elternteil nach § 1671 Absatz 1 S. 2 Nr. 2 BGB genutzt.
Zahlreiche Details hierzu sind indes in Rechtsprechung und im Schrifttum umstritten. Zu einigen Fragen nimmt der Bundesgerichtshof in der vorliegenden Entscheidung Stellung.
Nachdem er die Sichtweise der Vorinstanz wiedergegeben hat, führt er wie folgt aus:
(..) Mit der Aufhebung der gemeinsamen Sorge und Übertragung der Alleinsorge auf den antragstellenden Elternteil gemäß § 1671 BGB ist zwangsläufig ein Eingriff in das durch Art. 6 Abs. 2 GG geschützte Elternrecht des anderen Elternteils verbunden. Auch die Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge unterliegt daher dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (…). Sie kommt insbesondere nur dann in Betracht, wenn dem Kindeswohl nicht durch mildere Mittel als die Sorgerechtsübertragung entsprochen werden kann.
Die Frage, ob eine Sorgerechtsübertragung nach § 1671 Abs. 1 BGB durch die Erteilung einer Vollmacht in diesem Sinne entbehrlich werden kann, wird in der Rechtsprechung der Obergerichte und im Schrifttum unterschiedlich beurteilt.
Zum Teil wird die Frage allgemein („in aller Regel“) verneint (…).
Zum Teil wird die Vollmachterteilung nur dann als ausreichend betrachtet, wenn eine Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit der Eltern besteht (…) oder wenn die Vollmacht auf der Grundlage einer Individualvereinbarung erteilt wurde und ein Mindestmaß einer tragfähigen Beziehung zwischen den Eltern besteht (…).
Andere verlangen das Bestehen einer sozialen Beziehung des Kindes zum bevollmächtigenden Elternteil, damit die Vollmacht als ausreichend angesehen werden könne (…), während wiederum andere die Vollmacht auch dann für ausreichend halten, wenn kein Kontakt des vollmachtgebenden Elternteils zu dem Kind besteht (…). Dabei wird neben der Vollmachterteilung – wie vom Beschwerdegericht – auch eine Ermächtigung als mögliches und gegebenenfalls vorrangiges Mittel in Betracht gezogen (…).
Nach zutreffender Ansicht kann die Bevollmächtigung eines mitsorgeberechtigten Elternteils durch den anderen eine Übertragung des Sorgerechts ganz oder teilweise entbehrlich machen, wenn und soweit sie dem bevollmächtigten Elternteil eine ausreichend verlässliche Handhabe zur Wahrnehmung der Kindesbelange gibt. Das setzt allerdings auch eine ausreichende Kooperationsfähigkeit und -bereitschaft der Eltern voraus, soweit eine solche unter Berücksichtigung der durch die Vollmacht erweiterten Handlungsbefugnisse des bevollmächtigten Elternteils unerlässlich ist.
Zur Ermöglichung des alleinigen Vertreterhandelns eines mitsorgeberechtigten Elternteils werden sowohl dessen Bevollmächtigung nach § 167 BGB als auch, entsprechend der für die offene Handelsgesellschaft geltenden Regelung in § 125 Abs. 2 Satz 2 HGB, dessen Ermächtigung für zulässig gehalten (…).
Der Bundesgerichtshof hat zur wirksamen Einwilligung in eine Operation des minderjährigen Kindes die Ermächtigung des allein einwilligenden Elternteils durch den anderen für möglich und erforderlich gehalten (…).
Durch die Möglichkeit einer Ermächtigung wird indessen eine Autorisierung des anderen Elternteils im Wege der Bevollmächtigung jedenfalls nicht ausgeschlossen. Denn eine Beschränkung auf die Ermächtigung lässt sich dem Gesetz nicht entnehmen. Es ist bereits fraglich, ob zwischen Vollmacht und Ermächtigung, die übereinstimmend jeweils auf rechtsgeschäftlicher Grundlage erteilt werden und zur alleinigen Vertretungsbefugnis eines Elternteils führen, im Bereich der gesetzlichen Gesamtvertretung durch sorgeberechtigte Eltern überhaupt wesentliche Unterschiede bestehen.
Jedenfalls wird die Bevollmächtigung des einen Elternteils durch den anderen weder durch gesetzliche Anordnung noch aus übergeordneten Gesichtspunkten ausgeschlossen.“
Sodann folgen Ausführungen zur Rechtsnatur eines etwaigen Vollmachtverhältnisses.
(…) „Aus der fortbestehenden elterlichen Sorge nach §§ 1626 ff. BGB ergibt sich sodann regelmäßig das Grundverhältnis. Daraus folgen gegebenenfalls auch Mitwirkungspflichten sowie Kontrollbefugnisse und -pflichten des vollmachtgebenden bzw. ermächtigenden Elternteils. Auch wenn sich aus der gemeinsamen Sorge kein Weisungsrecht des Vollmachtgebers ergibt, hat dieser – neben der inhaltlichen Beschränkung der Vollmacht (Ermächtigung) – jedenfalls die Möglichkeit, die Vollmacht bzw. Ermächtigung etwa im Fall der nicht kindeswohlentsprechenden Wahrnehmung durch den bevollmächtigten Elternteil zu widerrufen. Auf den Widerruf der Vollmacht kann dabei wegen der mangelnden Disponibilität des Elternrechts nicht wirksam verzichtet werden (….). Eines von den Eltern geschlossenen Vertrages, etwa eines Auftrags, bedarf es für das Grundverhältnis dagegen nicht. Ein solcher kann mithin auch nicht Voraussetzung für den Vorrang der Vollmacht gegenüber einer Sorgerechtsübertragung sein.
Ebenso wie ein außenstehender Dritter von den Eltern bevollmächtigt werden kann, für das Kind zu handeln, ist es erst recht möglich, dass ein mitsorgeberechtigter Elternteil den anderen mit der Folge bevollmächtigt, dass dieser befreit von den Beschränkungen der Gesamtvertretung unmittelbar für das Kind rechtsgeschäftlich handeln kann. Eine Notwendigkeit, dass der (Unter-)Bevollmächtigte außer im Namen des Kindes auch im Namen des bevollmächtigenden Elternteils handelt, besteht entgegen der Ansicht des Oberlandesgerichts (….) nicht.
Vielmehr kann der (unter-)bevollmächtigte Elternteil das Kind unmittelbar allein vertreten. Ob sich aus der Art des Auftretens des bevollmächtigten Elternteils etwa Konsequenzen für die Folgen einer eventuellen Vertretung ohne Vertretungsmacht ergeben können (…), betrifft die Haftung nach § 179 BGB und steht weder der Zulässigkeit der Bevollmächtigung eines gesamtvertretungsberechtigten Elternteils durch den anderen noch der einheitlichen Alleinvertretung des Kindes durch den bevollmächtigten Elternteil entgegen. Nichts anderes gilt für solche Angelegenheiten, in denen die Eltern in Ausübung der elterlichen Sorge im eigenen Namen handeln.
Die Bevollmächtigung kann eine Übertragung des alleinigen Sorgerechts nach § 1671 Abs. 1 BGB entbehrlich machen, wenn sie dem bevollmächtigten Elternteil eine ausreichend verlässliche Handhabe zur alleinigen Wahrnehmung der Kindesbelange gibt. Hierfür ist allerdings eine ausreichende Kooperationsfähigkeit und -bereitschaft der Eltern erforderlich, soweit eine solche auch unter Berücksichtigung des durch die Vollmacht erweiterten Handlungsspielraums des bevollmächtigten Elternteils unerlässlich ist.
Dass bei Vorliegen dieser Voraussetzungen eine Übertragung des Sorgerechts unterbleiben muss, folgt – wie ausgeführt – bereits zwingend aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Denn ein Eingriff in die elterliche Sorge als Bestandteil des Elternrechts muss stets auf das im Sinne des Kindeswohls und der beiderseitigen Elternrechte erforderliche Maß begrenzt bleiben.
Der Eingriff ist aber nicht erforderlich, wenn die Handlungsbefugnisse des Elternteils bereits durch die Vollmacht erweitert sind und dieser dadurch in die Lage versetzt wird, in den maßgeblichen Kindesbelangen allein tätig zu werden. Infolge der ihm erteilten Vollmacht ist der Elternteil dann auch ohne Abstimmung mit dem anderen Elternteil ausreichend handlungsfähig und trägt dementsprechend die Hauptverantwortung für das Kind.
Die Vollmacht ermöglicht so vor allem, dass Konflikte in der Kommunikation und Kooperation mit dem anderen Elternteil weitgehend vermieden werden können (…).“
Zusammenfassung:
- Dem sich aus der gesetzlichen Gesamtvertretung des minderjährigen Kindes durch gemeinsam sorgeberechtigte Eltern ergebenden Bedürfnis für eine Autorisierung eines Elternteils zur alleinigen Wahrnehmung elterlicher Vertretungsbefugnisse kann durch Erteilung einer Vollmacht entsprochen werden.
- Das Grundverhältnis für diese Vollmacht ist regelmäßig das sich aus dem fortbestehenden gemeinsamen Sorgerecht ergebende gesetzliche Rechtsverhältnis. Daraus ergeben sich insbesondere Kontrollbefugnisse und -pflichten und gegebenenfalls auch Mitwirkungspflichten des vollmachtgebenden Elternteils. Eines gesonderten Vertrags zwischen den Eltern bedarf es für das Grundverhältnis nicht.
- Die Bevollmächtigung des mitsorgeberechtigten Elternteils kann eine andernfalls notwendige Übertragung des Sorgerechts ganz oder teilweise entbehrlich machen, wenn und soweit sie dem bevollmächtigten Elternteil eine ausreichend verlässliche Handhabe zur Wahrnehmung der Kindesbelange gibt. Hierfür ist eine ausreichende Kooperationsfähigkeit und -bereitschaft der Eltern erforderlich, soweit eine solche auch unter Berücksichtigung des durch die Vollmacht erweiterten Handlungsspielraums des bevollmächtigten Elternteils unerlässlich ist.