Anforderungen an die Beweiserhebung im Arzthaftungsfall
BGH, Beschluss vom 9.1.2018 – VI ZR 106/17
Aus dem Sachverhalt
Der Bekl. brachte bei der Kl. Implantate und eine Kieferbrücke ein. Später ließ sich die Kl. bei einer anderen Zahnärztin eine neue Prothese einsetzen. Die Kl. wirft dem Bekl. vor, sie nicht ausreichend aufgeklärt zu haben. Mit den verwendeten Implantaten sei sie nicht einverstanden gewesen. Außerdem habe der Bekl. sie fehlerhaft behandelt. Die ihr eingesetzte Konstruktion habe wie eine Eisenbahnschiene ausgesehen und sei zu schwer gewesen, weshalb sie sich immer wieder gelockert habe und herausgefallen sei. Der Behandlungsfehler des Bekl. bestehe auch hinsichtlich der Wahl des Versorgungskonzepts und deren medizinisch fachgerechten Durchführung.
Die Kl. nahm den Bekl. daher auf Schadensersatz, Schmerzensgeld und Feststellung in Anspruch.
Die Klage blieb sowohl in der ersten als auch in der zweiten Instanz erfolglos.
Die Nichtzulassungsbeschwerde der Kl. führte zur Aufhebung des Berufungsurteils, soweit die Berufung wegen einer fehlerhaften Zahnersatzkonstruktion zurückgewiesen worden ist, und im Umfang der Aufhebung zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
Aus den Gründen
Der Bundesgerichtshof macht gleich zu Beginn der Entscheidung deutlich, dass das Oberlandesgericht auf einem Verstoß gegen das grundgesetzlich verbriefte Recht auf die Gewährung rechtlichen Gehörs beruht.
„(…) Das Berufungsgericht ist unter entscheidungserheblichem Verstoß gegen den Anspruch der Kl. auf rechtliches Gehör (Art. 103 I GG) zu der Annahme gelangt, dass ein Fehler der Zahnersatzkonstruktion nicht nachgewiesen sei.
(…) Die Kl. hat erstinstanzlich vorgetragen, die ihr eingesetzte Zahnersatzkonstruktion habe wie eine Eisenbahnschiene ausgesehen und sei zu schwer gewesen, weshalb sie sich immer wieder gelockert habe und herausgefallen sei. Im Berufungsverfahren hat sie vorgetragen, der Behandlungsfehler des Bekl. bestehe auch hinsichtlich der Wahl des Versorgungskonzepts und deren medizinisch fachgerechten Durchführung.“
Das oberste deutsche Zivilgericht zitiert in der Folge aus den Schriftsätzen der Klägerin und stellt dann die diesbezügliche Entscheidung des Berufungsgerichts dar:
„(…) Das Berufungsgericht hat in den Urteilsgründen ausgeführt, dass eine Kontrolluntersuchung des Bekl. ohne Befund erfolgt sei. Die Gründe, warum die Brücke mehrfach herausgefallen sei, könnten naturgemäß nicht mehr festgestellt werden. Allerdings sei erkennbar, dass die Kl. die Brücke mehr als ein Jahr getragen habe, bis sie erneut Schwierigkeiten damit gehabt habe, als während ihres Urlaubs die Brücke erneut herausgefallen sei. Soweit die Kl. der Auffassung sei, dass sich allein daraus ein ärztlicher Behandlungsfehler ergebe, weil sie mit dem Neuaufbau der Brücke durch die Zeugin sehr viel zufriedener sei und es damit keine Probleme gebe, könne dem nicht gefolgt werden. Nach den glaubhaften Angaben des [als] Zeugen [vernommenen Zahntechnikers] habe die Brücke gepasst und sei auch entsprechend befestigt worden. Es sei sicherlich ungewöhnlich, dass eine Brücke mehrfach herausfalle, die konkreten Umstände dafür könnten allerdings nicht mehr festgestellt werden. Auch wenn das Modell der vom Bekl. eingesetzten Oberkieferprothese bei der Kl. noch vorhanden sei, sei eine Überprüfung, ob die alte Brücke funktionsfähig gewesen sei, nicht mehr möglich. Es sei gerichtsbekannt und durch den Senat als Fachsenat schon mehrfach durch Sachverständigengutachten festgestellt worden, dass bereits kurze Zeit nach Veränderung der Gebisssituation eine Überprüfung nicht mehr möglich sei, da sich sowohl der Kiefer als auch die Gebisssituation der neuen Prothetik anpassten. Es handele sich bei Zahnersatz um ein millimetergenaues individuell angefertigtes Konstrukt, bei dem bereits kleinste Veränderungen dazu führten, dass eine genaue Überprüfung eines früheren Zustands nicht mehr möglich sei. Es wäre deshalb Sache der Kl. gewesen, vor Anfertigung der neuen Brücke eine Beweissicherung des vorhandenen Zustands vorzunehmen. Im Nachhinein sei eine solche Überprüfung nicht möglich.“
Sodann stellt der Bundesgerichtshof mit deutlichen Worten fest, warum das Berufungsgericht gehalten gewesen wäre, dem darin enthaltenen Beweisangebot durch ein Sachverständigengutachten nachzukommen:
„(…) Danach hat das Berufungsgericht den wesentlichen Kern des Vorbringens der Kl. jedenfalls nicht in Erwägung gezogen (…). Darüber hinaus hat der Verzicht auf die Einholung des von der Kl. beantragten Sachverständigengutachtens im Prozessrecht keine Stütze (…).
(…) Aus den Erwägungen des Berufungsgerichts ergibt sich, dass es Art und Umfang des von der Kl. behaupteten Fehlers sowie die für ein Sachverständigengutachten zur Verfügung stehenden Anknüpfungstatsachen allenfalls unzureichend zur Kenntnis genommen und zumindest nicht berücksichtigt hat.
(…) Eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör kann festgestellt werden, wenn sich aus den besonderen Umständen des einzelnen Falls deutlich ergibt, dass das Gericht Vorbringen entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei seiner Entscheidung nicht in Erwägung gezogen hat.
Davon ist unter anderem dann auszugehen, wenn das Gericht auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags eines Beteiligten zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, nicht eingegangen ist, sofern er nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts nicht unerheblich oder aber offensichtlich unsubstanziiert gewesen ist (…).
(…) Zunächst begründet das Berufungsgericht seine Auffassung, dass die Funktionsfähigkeit der alten Brücke nicht mehr überprüft werden könne, ausschließlich mit der zwischenzeitlich veränderten Gebisssituation. Es berücksichtigt nicht den Vortrag der Kl., wonach – unabhängig von der Passgenauigkeit des Zahnersatzes (dem „Biss“) – das gesamte Behandlungskonzept bereits in seiner Grundanlage fehlerhaft gewesen sein soll, insbesondere weil die Implantate die verwendeten Aufbauten nicht hätten tragen können.
(…) Zudem ist nach dem Vortrag der Kl. nicht nur das vom Berufungsgericht erwähnte Modell der vom Bekl. eingesetzten Oberkieferprothese vorhanden, sondern – durch Lichtbilder belegt – auch die vom Bekl. verwendete Zahnersatzkonstruktion.
(…) Jedenfalls hat das Berufungsgericht keine eigene besondere Sachkunde ausgewiesen und die Kl. nicht darauf hingewiesen, dass es das beantragte Sachverständigengutachten aufgrund eigener Sachkunde für ungeeignet hält.
(…) Art. 103 I GG verpflichtet die Gerichte, erheblichen Beweisanträgen nachzugehen. Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots, die im Prozessrecht keine Stütze hat, verstößt gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör (…).
(…) Der Tatrichter darf, wenn es um die Beurteilung einer Fachwissen voraussetzenden Frage geht, auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens nur verzichten, wenn er entsprechende eigene besondere Sachkunde auszuweisen vermag. Zudem muss der Tatrichter, wenn er bei seiner Entscheidung eigene Sachkunde in Anspruch nehmen will, den Parteien zuvor einen entsprechenden Hinweis erteilen (…). Dies gilt auch, wenn der Tatrichter auf ein Sachverständigengutachten verzichten will, weil er es auf Grundlage eigener Sachkunde für ungeeignet hält (…).“
Aus den Erwägungen des Berufungsgerichts ergab sich indes weder, warum nicht auch nachträglich die Fehlerhaftigkeit der gesamten Zahnersatzkonstruktion feststellbar sein sollte, noch war ersichtlich, dass das Berufungsgericht hatte erkennen lassen, es wolle auf das beantragte Sachverständigengutachten verzichten, weil dieses ungeeignet sei und es selbst die für die Beurteilung dieser Frage erforderliche Sachkunde besitze.
Zusammenfassung:
- Der Tatrichter darf, wenn es um die Beurteilung einer Fachwissen voraussetzenden Frage geht, auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens nur verzichten, wenn er entsprechende eigene besondere Sachkunde auszuweisen vermag.
- Zudem muss der Tatrichter, wenn er bei seiner Entscheidung eigene Sachkunde in Anspruch nehmen will, den Parteien zuvor einen entsprechenden Hinweis erteilen
- Dies gilt auch, wenn der Tatrichter auf ein Sachverständigengutachten verzichten will, weil er es auf der Grundlage eigener Sachkunde für ungeeignet hält.