Untersuchungshaft und Corona
OLG Hamm, Beschl. v. 16.4.2020 – 4 Ws 72/20
Aus dem Sachverhalt:
Der Angeklagte wurde am 10.4.2019 festgenommen und befindet sich seitdem in der vorliegenden Sache in Untersuchungshaft, zuletzt aufgrund des auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützten Haftbefehls des Amtsgerichts Paderborn vom 12.9.2019 (72 Gs 476/19) in Verbindung mit dem Haftfortdauerbeschluss des Landgerichts Paderborn vom 19.2.2020. Der Vollzug der Untersuchungshaft war unterbrochen zur Vollstreckung zweier Ersatzfreiheitsstrafen in der Zeit vom 30.8.2019 bis zum 3.9.2019 und vom 31.10.2019 bis zum 29.11.2019. Im Rahmen der Aktenvorlage gem. §§ 120, 121 StPO hat das Oberlandesgericht Hamm mit Beschluss vom 24.10.2019 (3 Ws 461/19) die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus angeordnet. Nach Eröffnung des Hauptverfahrens hat am 21.2.2020 der erste Hauptverhandlungstag in der vorliegenden Sache stattgefunden. Ein weiterer Hauptverhandlungstag hat am 2.3.2020 stattgefunden.
Mit Beschluss vom 18.3.2020 hat die Strafkammer die Hauptverhandlung ausgesetzt, weil die Hauptverhandlung nicht binnen der Frist des § 229 Abs. 1 StPO fortgesetzt werden könne. Das Landgericht könne nicht hinreichend gewährleisten, dass die Verfahrensbeteiligten (drei Angeklagte, zehn Verteidiger, vier Schöffen, vier Berufsrichter, zwei Staatsanwälte, ein Protokollführer, zwei Wachtmeister) während der Sitzung hinreichend gegen das Risiko einer Infektion mit dem „Corona-Virus“ geschützt werden könnten.
Mit dem angefochtenen Beschluss vom selben Tag hat das Landgericht den Vollzug der Untersuchungshaft gegen den Angeklagten gegen Auflagen (u. a. Wohnsitznahme unter einer bestimmten Anschrift, Meldung bei einer Polizeidienstelle dreimal pro Woche, Sicherheitsleistung 10.000 Euro) ausgesetzt. Der Angeklagte hat die Kaution noch am selben Tag geleistet und wurde am 18.3.2020 aus der Untersuchungshaft entlassen.
Mit Schriftsatz vom 18.3.2020 hat die Staatsanwaltschaft Bielefeld Beschwerde gegen die Außervollzugsetzung des Haftbefehls eingelegt und beantragt, die Vollziehung der angefochtenen Entscheidung nach § 307 Abs. 2 StPO auszusetzen.
Die Strafkammer hat der Beschwerde mit Beschluss vom 20.3.2020 nicht abgeholfen, den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung der angefochtenen Entscheidung abgelehnt und die Vorlage an das Oberlandesgericht beschlossen.
Die Beschwerde hatte keinen Erfolg.
Aus den Gründen:
Kern der vorliegenden Entscheidung war die Frage, ob – da der dringende Tatverdacht und auch der Haftgrund der Fluchtgefahr grundsätzlich außer Frage standen – gleichwohl die Vollziehung des Haftbefehls außer Vollzug gesetzt werden konnte. Dies kommt insbesondere bei Leistung einer angemessenen Sicherheit gem. § 116 Abs.1 S. 2 Ziffer 5 StPO gegebenenfalls flankiert mit einer engmaschigen Meldeauflage gem. § § 116 Abs.1 S. 2 Ziffer 2 StPO in Betracht.
Das Oberlandesgericht hatte vorliegend ersichtlich Bedenken, hielt die Entscheidung der Kammer im Ergebnis jedoch mit bemerkenswerter Begründung:
„(…) Der Generalstaatsanwaltschaft ist zwar darin zuzustimmen, dass der Angeklagte angesichts der sehr hohen Straferwartung einen hohen Anreiz hat, zu fliehen und es auch tatsächliche Anhaltspunkte dafür gibt, dass er Kontakte ins Ausland unterhält und über finanzielle Mittel jedenfalls im untersten sechsstelligen Bereich verfügt, die – zumindest für eine vorübergehende Zeit – eine Flucht erleichtern könnten.
Es ist allerdings festzustellen, dass jedenfalls zur Zeit die Außervollzugsetzung des Haftbefehls in Verbindung mit den getroffenen Auflagen die Erwartung hinreichend begründet, dass auch so der Fluchtgefahr begegnet werden kann.
Zum einen sind die finanziellen Mittel des Angeklagten, die er auf einer Flucht zur Verfügung hätte, durch die Sicherheitsleistung – wenn auch nur mäßig – vermindert. Durch die Meldeauflage würde eine Flucht des Angeklagten zudem zeitnah auffallen.
Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass diese Auflagen in dem nunmehr rund vierwöchigen Zeitraum seit der Haftentlassung des Angeklagten auch dazu geführt haben, dass er sich dem Verfahren gerade nicht durch Flucht entzogen hat. Eine vom Senat eingeholte Auskunft hat ergeben, dass er sich an die Meldeauflagen bisher gehalten hat.
Vor allem ist aber in der gegenwärtigen Situation Folgendes zu berücksichtigen: Der Angeklagte gehört als über sechzigjährige Person mit einer Asthmaerkrankung zu der von Covid-19 besonders gefährdeten Personengruppe. Bei dieser nimmt die Erkrankung überdurchschnittlich häufig einen schweren bzw. sogar tödlichen Verlauf. So soll die Sterblichkeitsrate bei den 60-69-jährigen Personen (schon ohne spezielle Berücksichtigung von Vorerkrankungen) bei 3,6 % liegen (vgl.: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1039211/umfrage/sterblichkeit-durch-das-coronavirus-nach-altersgruppen-in-china/). Der Angeklagte wäre aber bei einer Flucht im Vergleich zu einem gegenwärtig empfohlenen bzw. gebotenen (vgl. etwa § 12 Abs. 1 CoronaSchVONW) kontaktarmen Verhalten zwangsläufig einer erhöhten Zahl von Kontakten ausgesetzt. Weiter ist zu berücksichtigen, dass das Gesundheitssystem in Deutschland augenscheinlich eines der leistungsstärksten ist und mit einer höheren Zahl schwerer Krankheitsverläufe besser umgehen kann als die Gesundheitssysteme der meisten anderen Länder, so dass hier bislang eine vergleichsweise geringe Zahl an Todesopfern zu beklagen ist. Mit einer Flucht ins Ausland würde sich der Angeklagte einer erhöhten Gefährdung aussetzen. Das gilt vor allem vor dem Hintergrund, dass das Land, das nach den Telefonabhörprotokollen als Fluchtland am wahrscheinlichsten erscheint (insoweit kann auf die Ausführungen in der Antragsschrift der Generalstaatsanwaltschaft Bezug genommen werden), Großbritannien, angesichts der Überlastung des dortigen Gesundheitssystem ein besonders hohes Risiko birgt. Die Zahl der tödlichen Krankheitsverläufe ist dort um ein Vielfaches höher als in Deutschland.
Nicht völlig unberücksichtigt bleiben kann auch, dass Grenzübertritte zur Zeit angesichts der zahlreichen Einschränkungen der Bewegungsfreiheit im In- und Ausland sowie der verstärkten Kontrollen zwar nicht unmöglich, wohl aber erschwert und eher nachverfolgbar sind.
Angesichts dieser Umstände ist der Senat zu der Überzeugung gelangt, dass gegenwärtig der Vollzug der Untersuchungshaft nicht erforderlich ist. Das Landgericht wird ggf. zu erwägen haben, ob die von der Verteidigung angebotene Abgabe des Reisepasses des Angeklagten als weitere Auflage anzuordnen ist, wenn die weltweiten Reisebeschränkungen in Zukunft wieder verringert werden sollten.“
Zusammenfassung:
- Gehört ein Beschuldigter zu einer sog. Hochrisikogruppe für einen schweren Verlauf einer Covid-19 Erkrankung, kann auch der Aspekt, dass eine mögliche Flucht ins Ausland eine erhebliche Gefährdung der eigenen Gesundheit mit sich bringen würde, bei der Einschätzung, ob einer Außervollzugsetzung eines Haftbefehls gem. § 116 StPO angezeigt ist, zu berücksichtigen sein.
- Ebenso können bei der Prognose hinsichtlich einer Fluchtgefahr die gegenwärtigen Erschwernisse, die durch die Grenzschließungen hervorgerufen werden, berücksichtigt werden.