Sittenwidrigkeit der Einwilligung in eine Körperverletzung
BGH, Urteil vom 15. August 2018, 2 StR 152/18
Aus dem Sachverhalt:
Das Landgericht hat den Angeklagten unter anderem von dem Vorwurf, die Zeugin J. körperlich verletzt zu haben, indem er mit einem goldenen Taschenmesser seine Initialen in ihre Haut im unteren Bereich des Rückens in einer Höhe von rund zehn Zentimetern und einer Breite von rund zwanzig Zentimetern in ihre Haut ritzte, aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Auf der Grundlage der Einlassung des Angeklagten, der die Tat als solche eingeräumt, aber unwiderlegt behauptet hatte, dass die Zeugin J. zunächst vorgeschlagen habe, ihm ihre Initialen mit einem Messer in die Haut zu ritzen und nach seiner Ablehnung dieses Vorschlags mit seinem Gegenvorschlag, dies bei ihr zu tun, einverstanden gewesen sei, hat es angenommen, dass die den Tatbestand des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB erfüllende Tat infolge einer wirksamen Einwilligung der Zeugin nicht als rechtswidrig anzusehen sei. Die Tat sei angesichts der konkreten Verletzungsfolgen auch nicht sittenwidrig. Die „Behandlung“ der Zeugin durch den Angeklagten sei nicht lebensgefährdend gewesen und habe infolge der Narbenbildung auch keine dauernde erhebliche Entstellung nach sich gezogen; die Buchstaben seien zwar unsauber und mit mehrfach gezogenen Strichen in einer beträchtlichen Größe von acht bis zehn Zentimetern eingeritzt worden; eine erhebliche Entstellung sei damit jedoch nicht verbunden. Darüber hinaus sei zugunsten des Angeklagten zu berücksichtigen, dass die Narben nicht von dauerhafter Natur seien, sondern entfernt oder überdeckt werden könnten.
Die hiergegen gerichtete Revision der Staatsanwaltschaft hatte keinen Erfolg.
Aus den Gründen:
Zunächst setzt sich das Revisionsgericht mit den formellen Anforderungen, die an die Urteilsgründe bei einem (Teil-)Freispruch zu stellen sind, auseinander:
„(…) Die Urteilsgründe genügen den formellen Anforderungen an einen Teilfreispruch (§ 267 Abs. 5 Satz 1 StPO). Wird der Angeklagte aus tatsächlichen Gründen freigesprochen, so müssen nach Mitteilung des Anklagevorwurfs im Urteil zunächst diejenigen Tatsachen dargestellt
werden, die das Tatgericht für erwiesen erachtet. Erst auf dieser Grundlage ist in der Beweiswürdigung darzulegen, aus welchen Gründen die zur Verurteilung notwendigen Feststellungen nicht getroffen werden konnten (…). Hierdurch wird das Revisionsgericht in die Lage versetzt, nachzuprüfen, ob der Freispruch auf rechtlich bedenkenfreien Erwägungen beruht (…). Diesen Anforderungen wird das Urteil gerecht. Zwar hat die Strafkammer nicht – wie geboten – zunächst die Feststellungen geschlossen dargestellt, die sie für erwiesen gehalten hat, sondern hat diese mit beweiswürdigenden Erwägungen vermischt. Unter den hier gegebenen Umständen gefährdet der hierin liegende Darstellungsmangel den Bestand des Freispruchs jedoch nicht. Die Ausführungen des Landgerichts versetzen das Revisionsgericht hinreichend in die Lage, nachzuprüfen, ob der Teilfreispruch auf rechtsfehlerfreien Erwägungen beruht.
Sodann erörtert das Gericht, das auch die inhaltlichen Voraussetzungen für ein freisprechendes Urteil erfüllt sind und stellt zunächst klar, dass die Beweiswürdigung des Tatgerichts von dem Revisionsgericht grundsätzlich hinzunehmen ist.
„Das Urteil genügt auch den inhaltlichen Anforderungen an ein freisprechendes Urteil. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts (§ 261 StPO). Spricht das Gericht einen Angeklagten frei, weil es Zweifel an dessen Täterschaft nicht zu überwinden vermag, so ist das vom Revisionsgericht in der Regel hinzunehmen. Dem Tatgericht obliegt es, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein, es genügt, dass sie möglich sind (…). Dabei hat das Revisionsgericht die tatrichterliche Überzeugungsbildung selbst dann hinzunehmen, wenn eine andere Beurteilung näher gelegen hätte oder überzeugender gewesen wäre (…). Die revisionsgerichtliche Prüfung erstreckt sich allein darauf, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (…). Das Tatgericht ist gehalten, sich mit den von ihm festgestellten Tatsachen unter allen für die Entscheidung wesentlichen Gesichtspunkten auseinander zu setzen, wenn sie geeignet sind, das Beweisergebnis zu beeinflussen (…). Das Tatgericht darf zudem keine überspannten Anforderungen an die für eine Verurteilung erforderliche Gewissheit stellen (…).“
Nach Auffassung des Bundesgerichtshofes lässt die Beweiswürdigung des Landgerichts keine Rechtsfehler der vorbezeichneten Art erkennen:
„Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil gerecht. Es ist insbesondere nicht zu erkennen, dass das Landgericht überspannte Anforderungen an die für die Verurteilung erforderliche Gewissheit gestellt hätte. Das Landgericht hat seine Überzeugung, dass die Zeugin in das Handeln des Angeklagten wirksam eingewilligt hat, knapp, aber tragfähig belegt. Widersprüche oder Lücken weisen diese Darlegungen nicht auf. (…)“
Auch die Bewertung der Einwilligung als nicht sittenwidrig begegnet nach der Auffassung des Revisionsgerichts keinen Bedenken:
„(…) Soweit die Staatsanwaltschaft schließlich geltend macht, das Landgericht habe der Prüfung der Frage, ob die Tat trotz Einwilligung als rechtswidrig anzusehen ist, weil die Tat gegen die guten Sitten verstoße (§ 228 StGB), einen falschen Maßstab zugrunde gelegt, teilt der Senat diese Bedenken nicht. Das Landgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass es für die Beurteilung der Sittenwidrigkeit zwar nicht allein, aber vor allem auf die ex-ante zu bestimmende Art und Schwere des Rechtsgutsangriffs ankommt (…). Für die Sittenwidrigkeit der Tat ist entscheidend, ob die Körperverletzung wegen des besonderen Gewichts des jeweiligen tatbestandlichen Rechtsgutsangriffs unter Berücksichtigung des Umfangs der eingetretenen Körperverletzung und des damit verbundenen Gefahrengrads für Leib und Leben des Opfers trotz Einwilligung des Rechtsgutsträgers nicht mehr als von der Rechtsordnung hinnehmbar erscheint (…). Diesen rechtlichen Maßstab hat das Landgericht der Prüfung der Frage der Sittenwidrigkeit der Tat zugrunde gelegt. Dass es die Tat unter Berücksichtigung der konkret eingetretenen Verletzungsfolgen nicht als sittenwidrig angesehen hat, ist von Rechts wegen unbedenklich. Entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft begegnet es auch keinen rechtlichen Bedenken, dass das Landgericht zur Beurteilung der Sittenwidrigkeit die Zwecksetzung des Handelns des Angeklagten, die Geschädigte gleichsam zu „zeichnen“, unberücksichtigt gelassen hat.“
Das Merkmal der Sittenwidrigkeit ist restriktiv auszulegen:
Die Weite und Konturenlosigkeit des Merkmals der guten Sitten in § 228 StGB erfordert, dieses strikt auf das Rechtsgut der Körperverletzungsdelikte zu beziehen und auf seinen Kerngehalt zu reduzieren (…).
Gesellschaftliche Vorstellungen oder der durch die Tat verfolgte Zweck können lediglich dazu führen, dass ihretwegen eine Einwilligung trotz massiver Rechtsgutsverletzungen Wirksamkeit entfalten kann (…).
Zur Feststellung eines Sittenverstoßes und damit – über die Unbeachtlichkeit der Einwilligung – zur Begründung der Strafbarkeit von einvernehmlich vorgenommenen Körperverletzungen können sie nicht herangezogen werden (…).“
Zusammenfassung:
- Gesellschaftliche Vorstellungen oder der durch die Tat verfolgte Zweck können lediglich dazu führen, dass ihretwegen eine Einwilligung trotz massiver Rechtsgutsverletzungen Wirksamkeit entfalten kann. Zur Feststellung eines Sittenverstoßes und damit – über die Unbeachtlichkeit der Einwilligung – zur Begründung der Strafbarkeit von einvernehmlich vorgenommenen Körperverletzungen können sie nicht herangezogen werden.
- Für die Sittenwidrigkeit der Tat ist vielmehr entscheidend, ob die Körperverletzung wegen des besonderen Gewichts des jeweiligen tatbestandlichen Rechtsgutsangriffs unter Berücksichtigung des Umfangs der eingetretenen Körperverletzung und des damit verbundenen Gefahrengrads für Leib und Leben des Opfers trotz Einwilligung des Rechtsgutsträgers nicht mehr als von der Rechtsordnung hinnehmbar erscheint.