Anforderungen an eine Verdachtskündigung wegen sexuellen Missbrauchs
BAG, Urteil vom 2. März 2017- 2 AZR 698/15
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen fristlosen Kündigung.
Der Kläger ist seit 1986 als Deutschlehrer an einer Schule tätig.
Im Dezember 2008 teilten die Eltern einer Schülerin der Schulleitung mit, der Kläger habe ihre Tochter nach diesen Angaben auf den Schoß genommen und sie unterhalb der Kleidung im Gesäßbereich sowie zwischen den Beinen gestreichelt. Der Kläger räumte innerhalb einer Befragung ein, die Schüler in den Arm genommen und dabei an das Gesäß gefasst zu haben. Noch im Dezember 2008 meldeten sich die Eltern einer weiteren Schülerin und berichteten, sie hätten sich bereits im Jahr 2006 bei der damaligen Schulkoordinatorin über eine sexuelle Belästigung durch den Kläger beschwert.
In der Folge wurden im Jahre 2009 Strafanzeigen auch von den Eltern zweier weiterer Schülerinnen gestellt. Die Schülerinnen wurden in den diesbezüglich geführten Ermittlungsverfahren vernommen.
Im Mai 2010 wurde gegen den Kläger Anklage wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in 6 Fällen der Zeit von Herbst 2006 bis Dezember 2008 erhoben. Am 26. Mai 2010 erhielten die Vertreter der Beklagten Einsicht in die Ermittlungsakten. Der Kläger erhielt Gelegenheit zur Stellungnahme und äußerte die Ansicht, es handele sich um einen Komplott. Mit Schreiben vom 8. Juni 2010 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis fristlos wegen des Verdachts sexueller Belästigungen mehrerer Schüler, wogegen der Kläger rechtzeitig mit einer Kündigungsschutzklage vorging.
Nachdem das Amtsgericht den Kläger im März 2011 zunächst dem Anklagevorwurf gemäß schuldig gesprochen und gegen ihn eine Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und 9 Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde, verhängt hatte, hob das Landgericht das Urteil im Februar 2013 auf und sprach den Kläger, mittlerweile rechtskräftig, frei.
Der Kläger macht unter anderem geltend, dass ein Kündigungsgrund nicht vorliege.
Die Klage ist in den Vorinstanzen erfolglos geblieben, die Revision des Klägers hatte Erfolg und führte zur Aufhebung und Zurückverweisung.
Verdachtskündigung setzt starke, objektive Verdachtsmomente voraus
Der Senat hat sich aufgrund der bislang getroffenen Feststellungen außerstande gesehen, zu entscheiden, ob das Arbeitsverhältnis der Parteien durch Kündigung vom 8. Juni 2010 aufgelöst worden ist.
Eine Verdachtskündigung als besondere Form der Kündigung aus wichtigem Grund (§ 626 Abs. 1 BGB) könne gerechtfertigt sein, wenn starke, auf objektiven Tatsachen gründende Verdachtsmomente vorliegen, die geeignet sind, das für die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses erforderliche Vertrauen zu zerstören, und wenn der Arbeitgeber alle zumutbaren Anstrengungen zur Aufklärung des Sachverhalts unternommen, insbesondere der Arbeitnehmer Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben habe. Der Verdacht müsse auf konkrete, vom Kündigenden darzulegende und gegebenenfalls zu beweisende Tatsachen gestützt und darüber hinaus dringend sein. Es müsse eine große Wahrscheinlichkeit dafür bestehen, dass der Verdacht zutreffe, die Umstände, die ihn begründen, dürfen nach allgemeiner Lebenserfahrung nicht ebenso gut durch ein Geschehen zu erklären sein, dass eine Kündigung nicht zu rechtfertigen vermöchte. Bloße, auf mehr oder weniger haltbare Vermutungen gestützte Verdächtigungen reichten nicht aus.
Keine Bindung der Arbeitsgerichte an im Strafverfahren getroffene Entscheidungen
Eine Verdachtskündigung könne nicht allein auf Erkenntnisse der Staatsanwaltschaft oder Entscheidungen eines Ermittlungsrichters gestützt werden, selbst wenn sie auf der Annahme eines dringenden Tatverdachtes beruhen. Solche Umstände können für sich genommen allenfalls die Annahme des Arbeitgebers, der Arbeitnehmer habe die Tat mit hoher Wahrscheinlichkeit begangen, verstärken und damit für die Einhaltung der 2-Wochen-Frist des § 626 Abs. 2 BGB Bedeutung gewinnen.
Zwar hindere die mangelnde Bindung an das Strafurteil die Gerichte für Arbeitssachen nicht, in der Entscheidung enthaltene Feststellungen im Rahmen der freien Beweiswürdigung nach § 286 Abs. 1 ZPO zu berücksichtigen. Dabei dürften die Gerichte für Arbeitssachen die vom Strafgericht getroffenen Feststellungen aber nicht unbesehen übernehmen, sondern hätten diese in der Beweisurkunde dargelegten Feststellungen einer eigenen kritischen Überprüfung zu unterziehen und den Beweiswert einer gegebenenfalls lediglich urkundlich in den Worten des Strafrichters belegten Aussage sorgfältig zu prüfen.
Diesen Anforderungen sei das Urteil des Landesarbeitsgerichts nicht gerecht geworden.
Zusammenfassung:
- Der eine Verdachtskündigung begründende Tatverdacht muss auf konkrete, vom Kündigenden darzulegende und gegebenenfalls zu beweisenden Tatsachen gestützt sein. Der Verdacht muss dringend sein. Es muss eine große Wahrscheinlichkeit dafür bestehen, dass er zutrifft.
- Eine hohe Wahrscheinlichkeit für ein strafbares Verhalten oder eine sonstige erhebliche Pflichtwidrigkeit des Arbeitnehmers-insbesondere eine sexuelle Belästigung von Schülerinnen durch eine angestellte Lehrkraft-kann sich daraus ergeben, dass mehrere Zeugen unabhängig voneinander und bezogen auf unterschiedliche Begebenheiten ähnliche Verhaltensweisen des Arbeitnehmers schildern. Die Annahme daraus begründeter starker Verdachtsmomente erfordert eine sorgfältige, mögliche Fehlerquellen umfassende berücksichtigende Auseinandersetzung mit der Glaubhaftigkeit der jeweiligen Aussage und der Glaubwürdigkeit der Auskunftspersonen.
- Die Gerichte für Arbeitssachen sind bei der Entscheidung über die Wirksamkeit einer Verdachtskündigung an einen rechtskräftigen Freispruch des Arbeitnehmers im Strafverfahren nicht gebunden. Sie haben vielmehr alle relevanten Umstände eigenständig zu würdigen. Das kann je nach Streitstoff des arbeitsgerichtlichen Verfahrens die Prüfung erfordern, ob im strafgerichtlichen Urteil Tatsachen festgestellt worden sind, die geeignet sind, den Verdacht gegenüber dem Arbeitnehmer abzuschwächen.