Zum Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung
BAG, Urteil vom 08. September 2021 – 5 AZR 149/21 –
Aus dem Sachverhalt:
Die Parteien streiten in der Revision noch über Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für die Zeit vom 8. bis zum 22. Februar 2019.
Die Klägerin war bei der Beklagten, die eine Personalvermittlung betreibt, als kaufmännische Angestellte vom 28. August 2018 bis zum 22. Februar 2019 mit einer Arbeitszeit von 35 Wochenstunden beschäftigt. Im Arbeitsvertrag vereinbarten die Parteien eine Vergütung von 11,83 Euro brutto pro Stunde sowie ein monatliches Fahrgeld iHv. 185,00 Euro.
Am 8. Februar 2019 teilte die Klägerin gegenüber einem Mitarbeiter ihres Einsatzbetriebes mit, dass sie nicht zur Arbeit erscheinen werde. Zugleich mit ihrer Kündigung vom 8. Februar 2019 zum 22. Februar 2019 reichte die Klägerin bzw. ihr Prozessbevollmächtigter bei der Beklagten eine auf den 8. Februar 2019 datierte ärztliche Erstbescheinigung über eine voraussichtlich vom 8. bis zum 22. Februar 2019 bestehende Arbeitsunfähigkeit ein. Die Beklagte rechnete für die Zeit vom 1. bis zum 7. Februar 2019 Vergütung einschließlich Fahrgeld ab und zahlte an die Klägerin 591,57 Euro netto. Für den Zeitraum vom 8. bis zum 22. Februar 2019 erbrachte die Beklagte keine Zahlungen.
Mit ihrer Klage hat die Klägerin – soweit für die Revision von Bedeutung – für die Zeit ab dem 8. Februar 2019 Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall verlangt. Ihre Arbeitsunfähigkeit habe sie durch die der Beklagten vorgelegte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nachgewiesen.
Die Klägerin hat, soweit für die Revision von Interesse, zuletzt sinngemäß beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an sie 1.334,54 Euro brutto zuzüglich 145,36 Euro Fahrgeld abzüglich bereits gezahlter 591,57 Euro netto nebst Zinsen zu zahlen.
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt. Sie hat gemeint, der Beweiswert der für die Zeit ab dem 8. Februar 2019 vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung sei erschüttert. Die Klägerin sei der sie treffenden Darlegungs- und Beweislast für das Bestehen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit im streitigen Zeitraum nicht ausreichend nachgekommen.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat – soweit für die Revision von Bedeutung – die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der vom Senat nachträglich zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihr Begehren, die Klage abzuweisen, weiter.
Aus den Gründen:
„Die Revision der Beklagten ist begründet, weil die Klage – soweit noch entscheidungserheblich – entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts unbegründet ist.
I. Die Klägerin hat für die Zeit vom 8. bis zum 22. Februar 2019 keinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall.
1. Ein Arbeitnehmer hat nach § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall durch den Arbeitgeber für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit bis zur Dauer von sechs Wochen, wenn er durch Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert ist, ohne dass ihn ein Verschulden trifft.
a) Nach allgemeinen Grundsätzen trägt der Arbeitnehmer die Darlegungs- und Beweislast für die Anspruchsvoraussetzungen des § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG (…).
aa) Der Beweis krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit wird in der Regel durch die Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung iSd. § 5 Abs. 1 Satz 2 EFZG geführt. Die ordnungsgemäß ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist das gesetzlich ausdrücklich vorgesehene und insoweit wichtigste Beweismittel für das Vorliegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit. Nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 EFZG reicht die Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung iSd. § 5 Abs. 1 Satz 2 EFZG aus, um dem Arbeitgeber das Recht zur Leistungsverweigerung zu entziehen. Diese gesetzgeberische Wertentscheidung strahlt auch auf die beweisrechtliche Würdigung aus (…). Der ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kommt daher aufgrund der normativen Vorgaben im Entgeltfortzahlungsgesetz ein hoher Beweiswert zu. Der Tatrichter kann normalerweise den Beweis einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit als erbracht ansehen, wenn der Arbeitnehmer im Rechtsstreit eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegt (…).
bb) Die ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung begründet jedoch keine gesetzliche Vermutung einer tatsächlich bestehenden Arbeitsunfähigkeit iSd. § 292 ZPO mit der Folge, dass nur der Beweis des Gegenteils zulässig wäre (…). Aufgrund des normativ vorgegebenen hohen Beweiswerts der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung genügt jedoch ein „bloßes Bestreiten“ der Arbeitsunfähigkeit mit Nichtwissen durch den Arbeitgeber nicht, wenn der Arbeitnehmer seine Arbeitsunfähigkeit mit einer ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nachgewiesen hat. Vielmehr kann der Arbeitgeber den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nur dadurch erschüttern, dass er tatsächliche Umstände darlegt und im Bestreitensfall beweist, die Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers ergeben mit der Folge, dass der ärztlichen Bescheinigung kein Beweiswert mehr zukommt. Der Arbeitgeber ist dabei nicht auf die in § 275 Abs. 1a SGB V aufgeführten Regelbeispiele ernsthafter Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit beschränkt (…). Hierfür gibt es weder nach Wortlaut, Systematik und Zweck der Regelung, der in der Bekämpfung eines Missbrauchs der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall liegt (…), hinreichende Anhaltspunkte. Diese Bestimmung gibt ihm lediglich ein zusätzliches Instrument zur Erschütterung des Beweiswerts an die Hand, um einem missbräuchlichen Verhalten des Arbeitnehmers begegnen zu können. Den Beweiswert erschütternde Tatsachen können sich auch aus dem eigenen Sachvortrag des Arbeitnehmers (…) oder aus der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung selbst ergeben.
cc) Bei der näheren Bestimmung der Anforderungen an die wechselseitige Darlegungslast der Parteien ist zu berücksichtigen, dass der Arbeitgeber in aller Regel keine Kenntnis von den Krankheitsursachen hat und nur in eingeschränktem Maß in der Lage ist, Indiztatsachen zur Erschütterung des Beweiswerts der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorzutragen. In Anbetracht dieser Schwierigkeiten hat das Bundesarbeitsgericht bereits erkannt, dass dem Arbeitgeber, der sich auf eine Fortsetzungserkrankung iSd. § 3 Abs. 1 Satz 2 EFZG beruft, hinsichtlich der ihn insoweit treffenden Darlegungs- und Beweislast Erleichterungen zuzubilligen sind (…). Ebenso hat es entschieden, dass in Bezug auf die vom Arbeitgeber im Rahmen von § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG vorzutragenden Indizien für das Vorliegen eines einheitlichen Verhinderungsfalls der Unkenntnis des Arbeitgebers von den Krankheitsursachen angemessen Rechnung zu tragen ist (…). Da die Vorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung keine gesetzliche Vermutung oder eine Beweislastumkehr auslöst, dürfen an den Vortrag des Arbeitsgebers, der ihren Beweiswert erschüttern will, keine – unter Berücksichtigung seiner eingeschränkten Erkenntnismöglichkeiten – überhöhten Anforderungen gestellt werden. Der Arbeitgeber muss gerade nicht, wie bei einer gesetzlichen Vermutung, Tatsachen darlegen, die dem Beweis des Gegenteils zugänglich sind.
b) Gelingt es dem Arbeitgeber, den Beweiswert der ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erschüttern, so tritt hinsichtlich der Darlegungs- und Beweislast wieder derselbe Zustand ein, wie er vor Vorlage der Bescheinigung bestand. Es ist dann Sache des Arbeitnehmers, konkrete Tatsachen darzulegen und im Bestreitensfall zu beweisen, die den Schluss auf eine bestehende Erkrankung zulassen. Hierzu ist substantiierter Vortrag zB dazu erforderlich, welche Krankheiten vorgelegen haben, welche gesundheitlichen Einschränkungen bestanden haben und welche Verhaltensmaßregeln oder Medikamente ärztlich verordnet wurden (…). Der Arbeitnehmer muss also zumindest laienhaft bezogen auf den gesamten Entgeltfortzahlungszeitraum schildern, welche konkreten gesundheitlichen Beeinträchtigungen mit welchen Auswirkungen auf seine Arbeitsfähigkeit bestanden haben. Soweit er sich für die Behauptung, aufgrund dieser Einschränkungen arbeitsunfähig gewesen zu sein, auf das Zeugnis der behandelnden Ärzte beruft, ist dieser Beweisantritt nur ausreichend, wenn er die Ärzte von ihrer Schweigepflicht entbindet. Ob dies konkludent, zB durch die Benennung als Zeuge, geschehen kann, erscheint mit Blick auf die höchstpersönliche Natur des Schutzinteresses des Arztgeheimnisses nicht frei von Zweifeln (…).
2. Ausgehend hiervon hat die Klägerin die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Entgeltfortzahlung für die streitgegenständliche Zeit nach § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG nicht dargetan.
a) Die Annahme des Landesarbeitsgerichts, die Klägerin sei im maßgeblichen Klagezeitraum infolge Krankheit an ihrer Arbeitsleistung verhindert gewesen, beruht auf einer fehlerhaften Würdigung des Beweiswerts der von der Klägerin vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung.
aa) Grundsätzlich ist die Würdigung der Beweise gem. § 286 ZPO dem Tatrichter vorbehalten. Revisionsrechtlich ist nur zu überprüfen, ob die Beweiswürdigung in sich widerspruchsfrei und ohne Verletzung von Denkgesetzen und allgemeinen Erfahrungssätzen erfolgt ist, ob sie rechtlich möglich ist und ob das Berufungsgericht alle für die Beurteilung wesentlichen Umstände berücksichtigt hat (…).
bb) Dieser Überprüfung hält die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts nicht stand. Es ist hinsichtlich der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 8. Februar 2019 davon ausgegangen, dass sich ernsthafte Zweifel an deren Richtigkeit nicht daraus ergäben, dass sie auf der Diagnose „Sonstige und nicht näher bezeichnete Bauchschmerzen“ beruhe und sich über einen Zeitraum von zwei Wochen und damit bis zum Kündigungstermin erstrecke. Die Beklagte habe keine konkreten Umstände aufgezeigt, weshalb eine solche Diagnose generell oder jedenfalls vorliegend die Krankschreibung auch mit der konkreten Dauer nicht rechtfertigen könne. Sie habe lediglich „ins Blaue“ hinein behauptet, eine medizinisch begründbare Prognose für eine vierzehntägige Arbeitsunfähigkeit könne nicht vorgelegen haben. Abgesehen davon, dass sich die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung auf einen Zeitraum von 15 Tagen erstreckte, hat das Landesarbeitsgericht damit die Anforderungen an den arbeitgeberseitigen Vortrag zur Erschütterung des Beweiswerts der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung überspannt und zugleich einen von der Beklagten eingewandten und sich bereits aus der Bescheinigung selbst ergebenden wesentlichen Umstand nicht ausreichend berücksichtigt. Das Landesarbeitsgericht hat nicht genügend gewürdigt, dass die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 8. Februar 2019, die zugleich mit der Kündigung vom 8. Februar 2019 bei der Arbeitgeberin eingereicht wurde, passgenau die nach dieser Kündigung noch verbleibende Dauer des Arbeitsverhältnisses bis zum 22. Februar 2019 abdeckte. Das Landesarbeitsgericht hat sich zwar mit der Diagnose befasst, die dem Arbeitgeber üblicherweise gar nicht bekannt sein wird, die zeitliche Koinzidenz aber außer Acht gelassen.
cc) Das Berufungsurteil unterliegt deshalb der Aufhebung (§ 562 Abs. 1 ZPO). Einer Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht bedarf es nicht. Da die maßgeblichen Tatsachen festgestellt sind und ergänzender Sachvortrag hierzu nicht zu erwarten ist, kann der Senat selbst entscheiden. Auf der Grundlage des festgestellten Sachverhalts ist davon auszugehen, dass der Beweiswert der vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert ist. Aufgrund der zeitlichen Koinzidenz zwischen bescheinigter Arbeitsunfähigkeit sowie Beginn und Ende der Kündigungsfrist bestehen ernsthafte Zweifel am Bestehen der Arbeitsunfähigkeit.
b) In der Folge trägt die Klägerin (wieder) die volle Darlegungs- und Beweislast für das Bestehen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit als Voraussetzung eines Entgeltfortzahlungsanspruchs nach § 3 Abs. 1 EFZG. Es wäre an ihr gewesen, konkrete Tatsachen darzulegen und im Bestreitensfall zu beweisen, die den Schluss auf eine in der streitgegenständlichen Zeit bestehende Erkrankung zulassen. Hierzu reicht ihr vom Landesarbeitsgericht festgestellter Vortrag nicht aus. Die Klägerin hat lediglich pauschal ausgeführt, es habe ein „psychosomatischer Hintergrund“ bestanden. Sie sei im Einsatzbetrieb einem massiven Mobbing ausgesetzt gewesen, das zu Schlafstörungen und weiteren psychisch-körperlichen Beeinträchtigungen geführt habe und in absehbarer Zeit wahrscheinlich in ein Burn-Out eingemündet wäre. Sie hat aber keine näheren Angaben zur Intensität der von ihr geschilderten Schlafstörungen oder zur Art und vor allem Schwere der weiteren gesundheitlichen Beeinträchtigungen gemacht und auch nicht vorgetragen, dass die Beschwerden im gesamten Klagezeitraum anhielten. Es fehlte damit an substantiiertem Vortrag zu den während des streitgegenständlichen Zeitraums konkret bestehenden gesundheitlichen Beschwerden und Einschränkungen, deren Intensität und ihren Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit der Klägerin für die geschuldete Tätigkeit. Die Klägerin ist damit ihrer primären Darlegungslast zu einer im Klagezeitraum objektiv bestehenden krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit nicht nachgekommen.
(…)
Zusammenfassung:
- Wird ein Arbeitnehmer, der sein Arbeitsverhältnis kündigt, am Tag der Kündigung arbeitsunfähig krankgeschrieben, kann dies den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung insbesondere dann erschüttern, wenn die bescheinigte Arbeitsunfähigkeit passgenau die Dauer der Kündigungsfrist umfasst.
- Aufgrund des normativ vorgegebenen hohen Beweiswerts der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung genügt ein bloßes Bestreiten der Arbeitsunfähigkeit mit Nichtwissen durch den Arbeitgeber nicht, wenn der Arbeitnehmer seine Arbeitsunfähigkeit mit einer ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nachweisen kann. Der Arbeitgeber kann den Beweiswert nur dann erschüttern, wenn er tatsächliche Umstände darlegt und im Bestreitensfall beweist, die ernsthafte Zweifel an der Erkrankung ergeben.