Zur Freiwilligkeit eines Rücktritts vom Tötungsversuch
BGH, Beschluss vom 30.05.2018, 2 StR 141/18
Aus dem Sachverhalt:
Der Angekl. konsumierte gemeinsam mit dem später geschädigten G und dem Zeugen Dr am Abend des 24.3.2016 in der Wohnung des Dr erhebliche Mengen Bier und Kräuterlikör. Etwa gegen 0.50 Uhr wollte der Angekl. einen Streit zwischen G und Dr schlichten und wurde daraufhin von G, der die Situation verkannte, geschlagen. Der Angekl., dessen Steuerungsfähigkeit infolge des Alkoholgenusses erheblich vermindert war, geriet in große Wut und schlug G zunächst mit einer leeren Kräuterlikörflasche auf den Kopf, die dabei zerbrach. G ging zu Boden. Der Angekl. versetzte dem am Boden liegenden Geschädigten mehrere Faustschläge in das Gesicht.
Der Angekl. verlor jetzt alle Hemmungen und wollte G töten. Er ergriff einen Tisch und riss diesen hoch, wobei sich das Tischuntergestell löste. Die mit schweren Tonfliesen belegte Tischplatte warf der Angekl. auf den weiterhin am Boden liegenden G. Schließlich nahm er einen Minibackofen und warf diesen auf die auf Kopf und Rumpf des Geschädigten liegende Tischplatte.
Unmittelbar nach diesen Verletzungshandlungen klopfte ein anderer Hausbewohner, der Zeuge Z, an die Wohnungstür. Der Angekl. öffnete, verweigerte Z und dessen inzwischen ebenfalls erschienener Ehefrau jedoch zunächst den Zutritt zur Wohnung. Als Dr rief, dass die Zeugen hereinkommen sollten, schubste Z den Angekl. zur Seite und drückte ihn an die Wand im Flur, so dass er gemeinsam mit seiner Frau die Wohnung betreten konnte. Beide sahen im Wohnraum den Geschädigten, von dem nur die Beine zu erkennen waren, unter der Tischplatte am Boden liegen. Daraufhin riefen J, Z und ein weiterer Bewohner den Notarzt und die Polizei.
Z kümmerte sich um den Geschädigten, der nur noch röchelte und dessen Kopf blutverschmiert war.
Der Geschädigte erlitt mehrere Schürfwunden und Hämatome, ein Schädelhirn- und ein Gesichtstrauma, einen Nasenbeinbruch, einen Bruch des rechten Augenhöhlenbodens sowie der seitlichen Wand des rechten Unterkiefers mit mehreren Einblutungen. Seine Verletzungen waren potentiell lebensbedrohlich. Ohne ärztliche Hilfe hätte der hohe Blutverlust zu seinem Tode führen können. Der Geschädigte verließ die Klinik nach der Erstversorgung gegen ärztlichen Rat bereits am nächsten Morgen. Er hat sich zwischenzeitlich mit dem Angekl. ausgesöhnt.
Das Landgericht hat den Angekl. wegen versuchten Totschlags verurteilt. Sie ist davon ausgegangen, der Angekl. habe nach seiner Vorstellung nach der letzten Tathandlung alles getan, was nötig gewesen sei, um den Geschädigten zu töten, wobei er es für möglich gehalten habe, dass der Geschädigte ohne ärztliche Versorgung aufgrund der erlittenen Verletzungen hätte versterben können. Von dem danach beendeten Versuch habe der Angeklagte – wie nicht geschehen – nur aktiv zurücktreten können.
Würde man aus Sicht des Angekl. von einem unbeendeten Versuch ausgehen, fehle es an der Freiwilligkeit des Rücktritts, denn er sei durch das Klopfen an der Wohnungstür bei der Tatausführung gestört worden.
Die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angekl. hat Erfolg.
Aus den Gründen:
In den Fällen, in welchen der Täter aus seiner Sicht noch nicht alles getan hat, damit der Taterfolg eintritt, kann er gem. § 24 Abs. 1 S. 1 Var. 1 StGB strafbefreiend vom Versuch (etwa eines Totschlags) zurücktreten, indem er freiwillig die weitere Ausführung der Tat aufgibt.
Unter welchen Voraussetzungen eine solche Freiwilligkeit anzunehmen ist, ist Gegenstand zahlreicher Entscheidungen.
Da die Voraussetzungen eines Rücktritts sich maßgeblich an der Vorstellung des Täters zum Zeitpunkt der Ausführungshandlung, sog. Rücktrittshorizont, orientieren, obliegt dem Tatgericht die schwierige Aufgabe, valide Feststellungen zu den Gedanken des Angeklagten zu treffen.
Die Entscheidung der Vorinstanz gab dem BGH Anlass, sich zu beiden Fragen zu äußern.
Zudem erörtert das oberste deutsche Gericht in Strafsachen auch seine eingeschränkte Prüfungskompetenz hinsichtlich der tatsächlichen Feststellungen durch das Tatgericht:
„Das LG hat einen möglichen Rücktritt des Angekl. nicht rechtsfehlerfrei ausgeschlossen.
Die Kammer ist zunächst von einem zutreffenden Maßstab für die Annahme eines beendeten Versuchs des Totschlags ausgegangen. Maßgeblich ist das Vorstellungsbild (Rücktrittshorizont) des Täters nach der letzten Ausführungshandlung (…). Dabei liegt ein beendeter Versuch bereits dann vor, wenn der Täter die naheliegende Möglichkeit des Erfolgseintritts erkennt, selbst wenn er den Erfolg weder will noch billigt. Die Kenntnis der tatsächlichen Umstände, die einen Erfolgseintritt nahelegen, reicht aus (…).
Die diesen Maßstäben genügende Feststellung des LG, der Angekl. habe nach dem Wurf mit dem Minibackofen und damit der letzten Ausführungshandlung nach seiner Vorstellung alles getan, was nötig gewesen sei, um den Geschädigten zu töten und es für möglich gehalten, dass dieser ohne medizinische Versorgung auf Grund der erlittenen Verletzungen sterben könnte, wird durch die von der StrK vorgenommene Beweiswürdigung jedoch nicht getragen.
Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts. Ihm obliegt es, sich aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung ein Urteil über die Schuld oder Unschuld des Angekl. zu bilden (§ 261 StPO). Es kommt nicht darauf an, ob das Revisionsgericht angefallene Erkenntnisse anders gewürdigt oder Zweifel überwunden hätte. Vielmehr hat das Revisionsgericht die tatrichterliche Überzeugungsbildung selbst dann hinzunehmen, wenn eine andere Beurteilung näher gelegen hätte oder überzeugender gewesen wäre (…). Die Schlussfolgerungen des Tatgerichts brauchen nicht zwingend zu sein, es genügt, dass sie möglich sind (…). Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist in sachlichrechtlicher Hinsicht insbesondere der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (…).
Zudem muss die tatrichterliche Beweiswürdigung auf einer nachvollziehbaren und tragfähigen Grundlage beruhen (…).
Diesen Anforderungen wird die Beweiswürdigung hier nicht in jeder Hinsicht gerecht. Sie bleibt in Teilen lückenhaft. Die StrK unterlegt ihre Feststellungen zum Rücktrittshorizont des Angekl. lediglich mit dem objektiven Befund des rechtsmedizinischen Sachverständigen, wonach der erhebliche Blutverlust des Geschädigten ohne ärztliche Versorgung zu dessen Tod hätte führen können. Warum dieser objektive und nachträglich erhobene Befund einen Rückschluss auf den Rücktrittshorizont des Angekl. zulassen soll, bleibt im Urteil offen.
Es ist weder festgestellt, dass der Angekl. den hohen Blutverlust des Geschädigten nach dem Wurf mit der Tischplatte und dem Minibackofen wahrgenommen, noch dass er die diagnostizierten erheblichen Verletzungen erkannt hat. Dass der Angekl. allein aufgrund seiner erheblichen Tathandlungen bereits davon ausging, der Geschädigte werde an den erlittenen Verletzungen versterben, hat die StrK ebenfalls nicht festgestellt.
Auch dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe ist ein Schluss auf den Rücktrittshorizont des Angekl. nicht zu entnehmen. Nach den knappen Feststellungen zur objektiven Wahrnehmungssituation nach der letzten Ausführungshandlung lag der Geschädigte mit Kopf und Rumpf unter der Tischplatte, so dass nur seine Beine erkennbar waren. Der Kopf des stark blutenden Geschädigten wurde erst sichtbar, nachdem der Zeuge Z die auf dem Geschädigten liegende Tischplatte hochgehoben hatte. Die Urteilsfeststellungen bieten keine Anhaltspunkte, dass der erhebliche Blutverlust des Geschädigten bereits sichtbar war, als dieser noch unter der Tischplatte lag. Sonstige Umstände, die den Schluss zuließen, der Angekl. habe die schweren Verletzungen des Geschädigten bereits unmittelbar nach seiner letzten Ausführungshandlung wahrgenommen, sind den Urteilsgründen ebenfalls nicht zu entnehmen.
Die Urteilsgründe schließen auch einen Rücktritt des Angekl. von einem eventuell unbeendeten Versuch des Totschlags nicht rechtsfehlerfrei aus. Die Feststellungen belegen nicht die fehlende Freiwilligkeit einer nicht auszuschließenden Tataufgabe.
Der Annahme von Freiwilligkeit im Sinne des § 24 Abs. 1 StGB steht es nicht von vornherein entgegen, dass der Anstoß zum Umdenken von außen kommt oder die Abstandnahme von der Tat erst nach dem Einwirken eines Dritten erfolgt. Entscheidend ist vielmehr, dass der Täter die Tatvollendung aus selbstgesetzten Motiven nicht mehr erreichen will und dementsprechend „Herr seiner Entschlüsse“ geblieben ist (…).
Daran gemessen bleiben die Urteilsfeststellungen auch zur fehlenden Freiwilligkeit lückenhaft. Sie lassen offen, ob der Angekl., bevor er den Zeugen Z die Tür öffnete, nach seinem Vorstellungsbild noch weitere Ausführungshandlungen ohne Unterbrechung des unmittelbaren Handlungsfortgangs hätte vornehmen können. Weshalb das Klopfen des Zeugen Z einer freiwilligen Tataufgabe entgegenstehen soll, erschließt sich aus den Urteilsgründen nicht, denn der Angekl. war allein durch ein Klopfen an der Wohnungstür objektiv nicht gehindert, die Tatausführung fortzusetzen und weiterhin auf sein Opfer einzuwirken. Der Ausschluss einer möglichen Tataufgabe aus selbstgesetzten Motiven ist damit nicht belegt. (…)“
Zusammenfassung:
- Der Annahme von Freiwilligkeit im Sinne des § 24 I StGB steht es nicht von vornherein entgegen, dass der Anstoß zum Umdenken von außen kommt oder die Abstandnahme von der Tat erst nach dem Einwirken eines Dritten erfolgt. Entscheidend ist vielmehr, dass der Täter die Tatvollendung aus selbstgesetzten Motiven nicht mehr erreichen will und dementsprechend „Herr seiner Entschlüsse“ geblieben ist.
- Eine Beweiswürdigung, die sich mit diesen Fragen nicht (ausführlich) auseinandersetzt, ist lückenhaft.