Beweiswürdigung bei entlastenden Angaben des Angeklagten
BGH, Urt. v. 16.2.2022 − 5 StR 320/21
Aus dem Sachverhalt:
Der Angekl. konsumierte seit dem Vorabend der Tatnacht bei einem Freund Cannabis und Kokain. Auf Bitte des Freundes erklärte er sich im Laufe des Abends dazu bereit, einen verschlossenen Rucksack – über dessen Inhalt nicht gesprochen wurde – zu einer unbekannt gebliebenen Person zu bringen. Er öffnete den Rucksack nicht, hielt es aber für möglich, dass sich darin Betäubungsmittel befinden könnten, und nahm dies billigend in Kauf; nähere Vorstellungen zu Art, Qualität und Menge „der von ihm vage und pauschal für möglich erachteten Substanzen“ machte er sich nicht. Der Angekl. bekam als Kurierlohn von seinem Freund 100 EUR und sollte zudem bei einem nächsten Treffen fünf Gramm Kokain erhalten.
Er nahm den Rucksack an sich und begab sich weisungsgemäß auf den Weg zu der ihm genannten Adresse, für den er etwa 15 Minuten Fahrtzeit veranschlagte. In seinen Jackentaschen führte er einen Teleskopschlagstock und ein funktionstüchtiges Tierabwehrspray bei sich. Auf diese Gegenstände wies er auf polizeiliche Nachfrage im Rahmen einer Verkehrskontrolle hin. Sie wurden neben einem Mobiltelefon, zwei 50-Euro-Scheinen und dem Rucksack sichergestellt, in dem sich 27,506 g Blütenstände von Cannabispflanzen (Wirkstoffgehalt 4,271 g Tetrahydrochlorid), 226,97 g Haschisch (Wirkstoffgehalt 53,21 g Tetrahydrochlorid), 78,68 g Kokain (Wirkstoffgehalt 73,70 g Kokainhydrochlorid) und 236,52 g Amphetamingemisch (Wirkstoffgehalt 27,23 g Amphetaminbase) befanden.
Das LG hat die Tat abweichend von Anklage und Eröffnungsbeschluss, die von einem bewaffneten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln ausgegangen waren, als Beihilfe zur versuchten unerlaubten Abgabe von Betäubungsmitteln nach § 29 Abs. 1 Nr. 1, § 29 Abs. 2 BtMG, §§ 22, 23 Abs. 1, § 27 StGB gewertet. Es hat „keine hinreichenden Feststellungen zu einer auf Umsatz gerichteten eigenen (mit) täterschaftlichen Tätigkeit des Angekl. oder zu einer fremden, ggf. teilnahmefähigen, Tätigkeit eines Dritten“ zu treffen vermocht. Zudem habe er in Bezug auf eine nicht geringe Menge nicht vorsätzlich gehandelt. Ein Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge scheide aus, da der Angekl. als Bote keine eigene Verfügungsgewalt über die Betäubungsmittel gehabt habe. Die auf die Sachrüge gestützte Revision der StA hat Erfolg.
Aus den Gründen:
(…) II. Der Schuldspruch hält rechtlicher Überprüfung nicht stand, weil die Beweiswürdigung zum Vorteil des Angekl. – auch eingedenk des nur eingeschränkten revisionsgerichtlichen Überprüfungsmaßstabes (…) – durchgreifende Rechtsfehler enthält.
1. Die beweiswürdigenden Ausführungen zum Vorsatz des Angekl. in Bezug auf das Vorliegen einer nicht geringen Menge lassen besorgen, dass die Strafkammer überspannte Anforderungen an die Überzeugungsbildung gestellt hat; sie sind zudem lückenhaft und lassen die gebotene Gesamtwürdigung der einzelnen Beweisergebnisse vermissen.
a) Es ist weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zugunsten des Angekl. von Annahmen auszugehen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat (…). Danach sind auch entlastende Angaben des Angekl. nicht schon deshalb als unwiderlegbar hinzunehmen, weil es für das Gegenteil keine unmittelbaren Beweise gibt (…).
Zwar ist die Strafkammer angesichts des Einlassungsverhaltens des Angekl., der seinen Freund nicht namentlich benannt und sich in Bezug auf Nachfragen „durchgehend bedeckt gehalten“ hat, von einem indiziell nachteiligen Teilschweigen ausgegangen (…). Das Urteil teilt jedoch nicht mit, zu welchen Nachfragen sich der Angekl. nicht geäußert hat. Hierzu hätte aber schon deshalb Anlass bestanden, weil er nach den Feststellungen in Bezug auf das angeblich fehlende Bewusstsein für das Mitführen der Waffen der Lüge überführt ist. Dem Senat ist es daher weder möglich, die Würdigung des LG nachzuvollziehen, noch den Schluss zu überprüfen, der Angekl. habe „auf die Kammer einen offenen und aufrechten Eindruck“ gemacht.
Es hat sich indes nicht mit der sich dann aufdrängenden Frage beschäftigt, ob der Angeklagte seine Einlassung an dem Akteninhalt ausgerichtet haben könnte und ob daher seiner Schilderung ein geringerer Beweiswert beizumessen gewesen wäre.
Die Strafkammer hat nicht widerspruchsfrei begründet, warum der Angekl. sich einerseits weder zu Art, Qualität noch Menge der transportierten Betäubungsmittel nähere Vorstellungen gemacht (…), andererseits aber nicht damit gerechnet haben will, dass der Rucksack unterschiedliche Betäubungsmittel in so großen Mengen enthalten habe. Letzteres setzt aber denknotwendig nähere Vorstellungen zum Inhalt voraus, die der Angekl. gerade in Abrede stellt.
Dass das LG ein beim Angekl. nur „vages und pauschales Vorstellungsbild, möglicherweise Betäubungsmittel zu transportieren“ und ein nicht näher konkretisiertes Bewusstsein mit einer durch den Konsum von Kokain bedingten inneren Enthemmung und einer herabgesetzten Kritikfähigkeit begründet, ist schon für sich genommen kaum nachzuvollziehen und steht zudem in gewissem Widerspruch zur Annahme uneingeschränkter Schuldfähigkeit.
Die Strafkammer hat zwar im Ausgangspunkt zutreffend den Angekl. belastende Aspekte (hohes Verlustrisiko für Auftraggeber des Transports, relativ hohe Entlohnung) als Indiz dafür erkannt, dass die „Einlassung abwegig ist“. Diesen Umstand hat sie aber umgehend damit entkräftet, dass „nicht zwingend“ „nur auf diesen, für den Angekl. ungünstigen, Hintergrund zu schließen wäre“. Dies offenbart einen falschen Maßstab richterlicher Überzeugungsbildung (…).
b) Ferner ist die Beweiswürdigung lückenhaft, weil die Strafkammer nicht ersichtlich bedacht hat, dass ein zunächst freundliches und kooperatives Verhalten des Angekl. bei der polizeilichen Kontrolle und das Unterlassen eines Fluchtversuchs auch andere Gründe haben können als eine von ihr angenommene Unkenntnis vom genauen Inhalt des Rucksacks.
c) Das LG ist auch nicht seiner Aufgabe gerecht geworden, die einzelnen Beweisergebnisse in eine umfassende Gesamtwürdigung einzustellen (…). Es hat vielmehr jedes Indiz einzeln betrachtet und dieses darüber hinaus mit der fehlerhaft isolierten Anwendung des Zweifelssatzes entwertet. Der Grundsatz in dubio pro reo ist indes keine Beweis-, sondern eine Entscheidungsregel (…). Richtigerweise hätten deshalb die zahlreichen gegen die Einlassung sprechenden Tatsachen, die das LG in den Blick genommen hat (Teilschweigen, vorheriger Konsum von Kokain, hohes Verlustrisiko des Auftraggebers, Höhe des Kurierlohns, Lüge hinsichtlich der Kenntnis von den mitgeführten Waffen), zunächst mit vollem Gewicht in die Gesamtwürdigung eingestellt werden müssen. Erst im Anschluss daran hätte – bei danach bestehenden Zweifeln – der Zweifelssatz angewendet werden dürfen.
2. Zudem fehlt eine Würdigung dazu, weshalb sich die Beihilfehandlung des Angekl. nur auf eine Abgabe und nicht auf das Handeltreiben mit Betäubungsmitteln bezogen hat. Letzteres hätte auf der Grundlage der Feststellungen in den Blick genommen werden müssen. Hierzu bleibt unerörtert, was sich der Angekl. auch angesichts seiner Entlohnung zum Hintergrund des Drogentransports vorgestellt hat.”
Zusammenfassung:
Es ist weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zugunsten des Angeklagten von Annahmen auszugehen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat. Danach sind auch entlastende Angaben des Angeklagten nicht schon deshalb als unwiderlegbar hinzunehmen, weil es für das Gegenteil keine unmittelbaren Beweise gibt.