Zu den Anforderungen an einen Hinweis gemäß § 265 StPO
BGH, Beschl. v. 20.5.2021 – 3 StR 443/20
Aus dem Sachverhalt:
Die Angeklagte gestattete einem Freund ihres damals 14 Jahre alten Sohnes, seinen 16. Geburtstag am 27. Januar 2017 gemeinsam mit anderen Jugendlichen in ihrer Wohnung zu feiern. Zu Beginn erklärte die Angeklagte den Partygästen, sie dürften sich an allem in der Wohnung frei bedienen, auch an den Sachen im Kühlschrank, und sollten nicht schüchtern sein. Im Kühlschrank verwahrte die Angeklagte eine durchsichtige Plastikflasche mit der Aufschrift „Waldmeister Getränkesirup“, die mit einer grünlichen Flüssigkeit gefüllt war. Tatsächlich befand sich in der Flasche grün eingefärbte Polamidonlösung.
Die seit mehreren Jahrzehnten heroinabhängige Angeklagte erhielt seit 2012 Polamidon im Rahmen einer Substitutionstherapie in Vorratsmengen für jeweils eine Woche zur Mitnahme nach Hause (sogenannte „Take-Home-Verordnung“). Dabei wurde die Angeklagte regelmäßig darauf hingewiesen, dass sie die Polamidonlösung sicher vor dem Zugriff Dritter und in der Originalverpackung verwahren müsse. Zudem wurde sie wiederholt über die Gefahren von Polamidon für nicht an Opiate gewöhnte Personen informiert. Gleichwohl füllte die Angeklagte in der Folgezeit Teile der ihr verschriebenen Polamidonlösung in die unscheinbare Waldmeistersirupflasche ab, um sich einen Notfallvorrat anzulegen. Diese Flasche stellte sie im Jahr 2014 in ihren Kühlschrank und vergaß sie in der Folgezeit. Deshalb warnte sie am 27. Januar 2017 keinen der Partygäste vor der Flüssigkeit und entfernte diese auch nicht aus dem Kühlschrank.
Im Verlauf der Feier entdeckte der Jugendliche B. die Flasche und nahm aus ihr mehrere Schlucke. Anschließend reichte er die Flasche an die ebenfalls jugendlichen Partygäste W. und Ka. weiter, die beide einen kleinen Schluck nahmen, die Flüssigkeit aber wegen des als ekelhaft empfundenen Geschmacks sofort wieder ausspuckten. Sie nahmen an, bei dem Flascheninhalt handele es sich um eine Mischung aus hochprozentigem Alkohol und Waldmeistersirup. Der Geschädigte B. legte sich im Laufe des Abends in der Wohnung auf eine Couch. Er verstarb dort am nächsten Tag an einer Polamidonvergiftung. Den Geschädigten W. und Ka. wurde aufgrund des Konsums schlecht. Sie mussten sich mehrfach übergeben, überlebten aber ohne Folgeschäden.
Die Angeklagte erfuhr erst am Nachmittag des 28. Januar 2017, nachdem B. bereits verstorben war, dass die drei Jugendlichen aus der Flasche mit der Polamidonlösung getrunken hatten.
Das Landgericht hat den die Strafbarkeit wegen fahrlässiger Tötung in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung begründenden Sorgfaltspflichtverstoß der Angeklagten darin erblickt, dass sie die Polamidonlösung im Jahr 2014 in einer irreführend gekennzeichneten Flasche in ihrem Kühlschrank deponierte.
Aus den Gründen:
Zunächst äußert sich der BGH ausführlich zudem von der Revision geltend gemachten Verfahrenshindernis der fehlenden Anklage bezüglich des pflichtwidrigen Verwahrens der Polamidonlösung. Ein solches Verfahrenshindernis wäre zu bejahen gewesen, wenn es sich bei diesem Vorwurf um eine von der Anklage nicht umgrenzte prozessuale Tat handeln würde.
„Das von der Angeklagten geltend gemachte Verfahrenshindernis, die ausgeurteilte Tat der fahrlässigen Tötung in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung in zwei tateinheitlichen Fällen sei nicht von der Anklageschrift umfasst, besteht nicht.
1. Dem Vorbringen liegt Folgendes zu Grunde: Mit der Anklageschrift ist der Angeklagten abweichend von den Feststellungen des Landgerichts zur Last gelegt worden, sie habe bereits am Abend des 27. Januar 2017 erfahren, dass die drei Geschädigten kurz zuvor von der Polamidonlösung in der irrigen Annahme getrunken hatten, es handele sich um ein alkoholisches Getränk. Sie habe die Jugendlichen jedoch nicht über den wahren Inhalt der Flasche aufgeklärt und keine Maßnahmen zur medizinischen Versorgung der Geschädigten ergriffen. Die Anklageschrift hat das Verhalten der Angeklagten rechtlich als Totschlag durch Unterlassen in Tateinheit mit versuchtem Totschlag durch Unterlassen und mit gefährlicher Körperverletzung durch Unterlassen in zwei tateinheitlichen Fällen gewertet.
2. Gegenstand der Urteilsfindung ist gemäß § 264 Abs. 1 StPO die in der Anklage bezeichnete Tat, wie sie sich nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung darstellt. Tat im Sinne dieser Vorschrift ist ein einheitlicher geschichtlicher Vorgang, der sich von anderen ähnlichen oder gleichartigen unterscheidet und innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll (…). Die Tat als Prozessgegenstand ist dabei nicht nur der in der Anklage umschriebene und dem Angeklagten darin zur Last gelegte Geschehensablauf; vielmehr gehört dazu das gesamte Verhalten des Angeklagten, soweit es mit dem durch die Anklage bezeichneten geschichtlichen Vorgang nach der Auffassung des Lebens ein einheitliches Vorkommnis bildet (…). Verändert sich im Verlaufe des Verfahrens das Bild des Geschehens, wie es in der Anklageschrift und dem Eröffnungsbeschluss umschrieben ist, so ist die Prüfung der Frage, ob die Identität der prozessualen Tat trotz Veränderung des Tatbildes noch gewahrt ist, nach dem Kriterium der „Nämlichkeit“ der Tat zu beurteilen (…). Dies ist – ungeachtet gewisser Unterschiede – dann der Fall, wenn bestimmte Merkmale die Tat weiterhin als ein einmaliges und unverwechselbares Geschehen kennzeichnen (…). Die prozessuale Tat wird in der Regel durch Tatort, Tatzeit und das Tatbild umgrenzt und insbesondere durch das Täterverhalten sowie die ihm innewohnende Angriffsrichtung und durch das Tatopfer bestimmt (…).
3. Hieran gemessen besteht Identität zwischen der abgeurteilten Tat und dem von der Anklageschrift erfassten Lebenssachverhalt; die Nämlichkeit der Tat ist gewahrt. Denn es besteht eine weitreichende Übereinstimmung zwischen dem angeklagten Tatgeschehen und den Urteilsfeststellungen: Bereits die Anklageschrift hat der Angeklagten zur Last gelegt, sich mit dem Deponieren der Polamidonlösung im Kühlschrank im Jahr 2014 pflichtwidrig verhalten und damit die Ursache für den Tod eines Jugendlichen und die Verletzung von zwei weiteren Partygästen gesetzt zu haben, die in der irrigen Annahme, es handele sich um ein alkoholisches Getränk, am Abend des 27. Januar 2017 von der Flüssigkeit tranken. Die Abweichung zwischen Anklageschrift und Urteil geht in Bezug auf das äußere Tatgeschehen allein dahin, dass der Angeklagten von der Staatsanwaltschaft zur Last gelegt worden ist, bereits am Abend der Feier von dem Konsum der Jugendlichen erfahren und daraufhin keine Maßnahmen zu deren medizinischer Versorgung ergriffen zu haben, während sie nach den Urteilsfeststellungen erst am Folgetag nach dem Tod des B. Kenntnis von dem Geschehen erlangte. Zwar hat die Strafkammer die Angeklagte deshalb wegen fahrlässiger Tätigkeitsdelikte, begangen durch einen im Jahr 2014 liegenden Sorgfaltspflichtverstoß, verurteilt, während die Anklage von vorsätzlichen Unterlassungstaten und einer Tatbegehung am 27. Januar 2017 ausgegangen ist. Diese Diskrepanzen, insbesondere die verschiedenen Tatzeiten, stehen jedoch der Tatidentität nicht entgegen, zumal die Anklageschrift die Garantenpflicht der Angeklagten ersichtlich durch die Deponierung der Polamidonlösung im Kühlschrank begründet gesehen hat, also in dem Verhalten, das die Strafkammer als strafbarkeitsbegründenden Sorgfaltspflichtverstoß gewertet hat.“
Handelte es sich somit bei den verschiedenen Anknüpfungspunkten um eine Tat im prozessualen Sinne, hatte die Revision mit der Verfahrensrüge Erfolg, da der von der Kammer erteilte Hinweis nicht den Voraussetzungen des § 265 StPO.
III. 1. Die Verfahrensrüge, mit der die Angeklagte einen Verstoß gegen § 265 Abs. 1 StPO geltend macht, hat Erfolg. Der Verfahrensverstoß führt zur Aufhebung des Urteils mit den zugehörigen Feststellungen, soweit die Angeklagte wegen fahrlässiger Tötung des B. und fahrlässiger Körperverletzung zum Nachteil von W. und Ka. verurteilt worden ist; dies entzieht der Gesamtstrafe die Grundlage.
a) Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zu Grunde: Die Strafkammer hatte die Anklage verbunden mit dem Hinweis, dass tateinheitlich zu den angeklagten Tötungs- und Körperverletzungsdelikten auch eine Strafbarkeit wegen Abgabe oder Verbrauchsüberlassung von Betäubungsmitteln mit Todesfolge (§ 30 Abs. 1 Nr. 3 BtMG) in Betracht komme, zur Hauptverhandlung zugelassen. Am vierten Hauptverhandlungstag erteilte der Vorsitzende in der Hauptverhandlung den folgenden rechtlichen Hinweis gemäß § 265 Abs. 1 StPO: „In Abweichung zum Eröffnungsbeschluss vom 11.02.2020 kommt in (dem hier relevanten) Fall 1 eine Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung gem. § 222 StGB in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung gem. § 229 StGB in zwei tateinheitlichen Fällen in Betracht“. Der Hinweis wurde im Folgenden nicht präzisiert.
b) Die Revision macht geltend, der erteilte Hinweis sei unzureichend. Schon aus § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO ergebe sich, dass er zwingend die tatsächlichen Umstände hätte benennen müssen, die nach Auffassung des Gerichts den geänderten Strafvorwurf begründen konnten. Es hätte darauf hingewiesen werden müssen, dass die Strafkammer nunmehr in Betracht zog, den Schuldvorwurf auf das Abstellen der Flasche mit Polamidonlösung im Kühlschrank im Jahr 2014 und nicht auf das Verhalten der Angeklagten am Abend des 27. Januar 2017 zu stützen.
c) Die Verfahrensrüge ist in zulässiger Weise erhoben. Es bedurfte nicht des unterbliebenen Vortrags, dass der Vorsitzende der Strafkammer an dem der Hinweiserteilung vorausgehenden Verhandlungstag den Hinweis angekündigt und erklärt hat, hinsichtlich der Umstände, wie die Flasche in den Kühlschrank gelangt sei, könne der Einlassung der Angeklagten gefolgt werden, die sich hierzu bereits den Urteilsfeststellungen entsprechend eingelassen hatte. Denn diese Mitteilung enthielt keine Informationen, die den am nachfolgenden Verhandlungstag erteilten rechtlichen Hinweis in relevanter Weise ergänzten. Für die Beurteilung, ob der Hinweis nach § 265 Abs. 1 StPO ausreichend war, ist die Mitteilung des Vorsitzenden am dritten Hauptverhandlungstag mithin ohne Belang.
d) Die Verfahrensrüge ist auch begründet.
aa) Nach § 265 Abs. 1 StPO hat das Gericht einen förmlichen und zu protokollierenden Hinweis zu erteilen, wenn infolge anderer rechtlicher Beurteilung bei gleichbleibendem Sachverhalt oder wegen neuer Erkenntnisse in tatsächlicher Hinsicht eine Verurteilung wegen eines anderen als dem in der Anklage bezeichneten Strafgesetzes in Betracht kommt. Der Hinweis muss eindeutig sein und den Angeklagten und seinen Verteidiger in die Lage versetzen, die Verteidigung auf den neuen rechtlichen Gesichtspunkt einzurichten. Daher muss für den Angeklagten und den Verteidiger aus dem Hinweis allein oder in Verbindung mit der zugelassenen Anklage nicht nur erkennbar sein, auf welches Strafgesetz nach Auffassung des Gerichts eine Verurteilung möglicherweise gestützt werden kann, sondern auch, durch welche Tatsachen das Gericht die gesetzlichen Merkmale des Straftatbestandes als möglicherweise erfüllt ansieht. Der Hinweis muss geeignet sein, dem Angeklagten Klarheit über die tatsächliche Grundlage des abweichenden rechtlichen Gesichtspunktes zu verschaffen und ihn vor einer Überraschungsentscheidung zu bewahren (…).
Zwar ergibt sich aus § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO nicht, dass ein Hinweis auf ein anderes in Betracht kommendes Strafgesetz nach § 265 Abs. 1 StPO in jedem Fall auch ausdrücklich die Tatsachen benennen muss, durch die nach Auffassung des Gerichts die Merkmale des neu in Betracht gezogenen Straftatbestandes erfüllt sein können. Vielmehr kann weiterhin im Einzelfall bei einem Hinweis nach § 265 Abs. 1 StPO die bloße Bezeichnung der neu in Betracht kommenden Gesetzesbestimmungen ausreichen; dies gilt insbesondere bei unveränderter Sachlage, aber auch, wenn die tatsächlichen Grundlagen des neu in Betracht gezogenen Straftatbestandes für den Angeklagten ohne Weiteres zweifelsfrei ersichtlich sind (…).
Durch den mit Gesetz vom 17. August 2017 geschaffenen § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO ist der Umfang der Hinweispflicht nach § 265 Abs. 1 StPO nicht erweitert worden (…).
In aller Regel muss allerdings auch ein Hinweis nach § 265 Abs. 1 StPO, sofern ihm nicht lediglich eine abweichende rechtliche Beurteilung eines unverändert gebliebenen Sachverhalts zu Grunde liegt, klar und eindeutig zum Ausdruck bringen, auf welche tatsächlichen Annahmen sich der neue Strafbarkeitsvorwurf stützt, um eine Überraschungsentscheidung zu verhindern und zu gewährleisten, dass sich der Angeklagte sachgerecht verteidigen kann (…).
bb) Hieran gemessen war der erteilte Hinweis unzureichend. Aus der schlichten Mitteilung in Betracht kommender anderer Strafvorschriften konnte die Angeklagte lediglich ableiten, dass statt einer Verurteilung wegen Unterlassens der Herbeiholung medizinischer Hilfe eine Verurteilung wegen fahrlässiger Herbeiführung des Todes beziehungsweise des gesundheitlichen Schadens der Opfer in Betracht kam. Welches Verhalten der Angeklagten die Strafkammer möglicherweise als den eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit tragenden Sorgfaltspflichtverstoß werten wollte, war dem Hinweis dagegen nicht zu entnehmen. Dies wäre jedoch erforderlich gewesen. Denn der vom Schwurgericht für maßgeblich gehaltene tatsächliche Anknüpfungspunkt für einen Sorgfaltspflichtverstoß war nicht offensichtlich. Insofern kam nicht nur das Abfüllen des Polamidons in einer Waldmeisterflasche und deren Abstellen im Kühlschrank im Jahr 2014 in Betracht, sondern auch die Äußerung der Angeklagten gegenüber den Partygästen am 27. Januar 2017, sie dürften sich auch an den Sachen im Kühlschrank bedienen und sollten nicht schüchtern sein, wobei diese Mitteilung mit keiner Warnung vor der Waldmeisterflasche einherging.
cc) Das Urteil beruht auf dem aufgezeigten Rechtsfehler; es ist nicht auszuschließen, dass sich die Angeklagte mit Erfolg anders verteidigt hätte, wenn sie darüber informiert worden wäre, dass ihr Verhalten im Jahr 2014 Grundlage für eine Verurteilung sein könnte. Zwar hatte die Angeklagte zum Zeitpunkt der Erteilung des rechtlichen Hinweises bereits eingestanden, Polamidonlösung in die Waldmeisterflasche abgefüllt und diese 2014 in ihren Kühlschrank gestellt zu haben. Jedoch erscheint es vor dem Hintergrund der schweren Heroinabhängigkeit der Angeklagten nicht von vornherein ausgeschlossen, dass sie sich bei einem ausreichenden Hinweis nach § 265 Abs. 1 StPO in Bezug auf die subjektiven Tatbestandsmerkmale einer Fahrlässigkeitsstrafbarkeit und ihre Schuldfähigkeit zum damaligen Zeitpunkt anders als geschehen verteidigt hätte. (…)“
Zusammenfassung:
- Aus dem Hinweis nach § 265 Abs. 1 StPO muss, ggf. auch in Verbindung mit der zugelassenen Anklage, nicht nur erkennbar sein, auf welches Strafgesetz eine Verurteilung nach Auffassung des Gerichts möglicherweise gestützt werden kann. Er muss auch die Information enthalten, durch welche Tatsachen das Gericht die gesetzlichen Merkmale der Straftat als möglicherweise erfüllt ansieht.
- Nur ausnahmsweise kann bei einem Hinweis nach § 265 Abs. 1 StPO die bloße Bezeichnung er neu in Betracht kommenden Gesetzesbestimmung ausreichen. Dies gilt insbesondere bei unveränderter Sachlage oder wenn die tatsächlichen Grundlagen des neu in Betracht gezogenen Tatbestandes für den Angeklagten ohne Weiteres zweifelsfrei ersichtlich sind.
- Durch den mit Gesetz vom 17.08.2017 geschaffenen § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO ist der Umfang der Hinweispflicht nach § 265 Abs. 1 StPO nicht erweitert worden.