Zum Beschleunigungsgebot in Haftsachen
BverfG, Beschluss vom 23.01.2019, 2 BVR 2429/18
Aus dem Sachverhalt
Der Bf. befindet sich seit dem 14.5.2016 in Untersuchungshaft. Am 16.8.2016 erhob die StA Anklage zum Landgericht u.a. wegen Mordes.
Am 4.10.2016 ließ die zuständige Strafkammer die Anklage zur Hauptverhandlung zu und ordnete die Haftfortdauer an. Die Hauptverhandlung begann zunächst am 10.11.2016. Bis zum 26.9.2017 waren 25 Verhandlungstage terminiert. Nach 23 Verhandlungstagen erkrankte die Vorsitzende am 19.8.2017 dauerhaft dienstunfähig. Die Kammer stellte daher zunächst am 4.9.2017 die Hemmung der Frist gem. § 229 II StPO fest und setzte am 28.9.2017 die Hauptverhandlung aus. Diese begann nach Übernahme der Kammer durch einen neuen Vorsitzenden erneut am 12.12.2017. Bis zum 22.8.2018 wurde an 25 Tagen, bis zum 6.11.2018 wurde an vier weiteren Tagen verhandelt. Bis zum 31.1.2019 waren weitere 15 Termine bestimmt. Die Strafkammer zeigte mehrmals ihre Überlastung an. Auf die Überlastungsanzeigen hin wies das Präsidium mit Wirkung ab dem 24.4.2017 der Kammer eine weitere Beisitzerin mit einem Arbeitskraftanteil von 0,2 zu, und es wurden Haftsachen, in denen eine Hauptverhandlung noch nicht begonnen hatten, anderen Strafkammern zugewiesen. Allerdings verhandelte die Kammer zeitgleich in zwei weiteren umfangreichen Haftsachen.
Am 26.8.2018 legte der Pflichtverteidiger des Bf. Haftbeschwerde ein, mit der er einen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot rügte. Das Oberlandesgericht verwarf die Beschwerde durch den angegriffenen Beschluss vom 16.10.2018 als unbegründet.
Die Verfassungsbeschwerde hatte Erfolg.
Aus den Gründen
(…)
„Der Beschluss des OLG Zweibrücken vom 16.10.2018 verletzt den Bf. in seinem Grundrecht aus Art. 2 II 2 GG iVm Art. 104 GG.“
Zunächst legt das Gericht den Schutzbereich und die Schranken des Grundrechts dar:
„Art. 2 II 2 GG gewährleistet jedermann die Freiheit der Person und nimmt einen hohen Rang unter den Grundrechten ein. Das kommt darin zum Ausdruck, dass Art. 2 II 2 GG die Freiheit der Person als „unverletzlich“ bezeichnet, Art. 104 I 1 GG ihre Beschränkung nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes zulässt und Art. 104 II bis IV GG besondere Verfahrensgarantien für ihre Beschränkung statuiert (…).
Die Freiheit der Person darf nur aus besonders gewichtigen Gründen und unter strengen formellen Gewährleistungen eingeschränkt werden. Zu diesen Gründen gehören in erster Linie solche des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts. Eingriffe in die persönliche Freiheit auf diesem Gebiet dienen vor allem dem Schutz der Allgemeinheit (…); zugleich haben die gesetzlichen Eingriffstatbestände freiheitsgewährleistende Funktion, da sie die Grenzen zulässiger Einschränkung der Freiheit der Person bestimmen (…).“
Die Unschuldsvermutung einerseits und das Erfordernis der Strafrechtspflege stehen in einem Spannungsverhältnis. Dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz kommt in diesen Fällen besondere Bedeutung zu:
„Bei der Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft ist daher stets das Spannungsverhältnis zwischen dem in Art. 2 II 2 GG gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung zu beachten. Grundsätzlich darf nur einem rechtskräftig Verurteilten die Freiheit entzogen werden. Der Entzug der Freiheit eines der Straftat lediglich Verdächtigen ist wegen der Unschuldsvermutung, die ihre Wurzel im Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 III GG hat und auch in Art. 6 II EMRK ausdrücklich hervorgehoben ist (…), nur ausnahmsweise zulässig. Dabei muss den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten als Korrektiv gegenübergestellt werden, wobei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine maßgebliche Bedeutung zukommt (…).“
Selbst bei einer hohen Straferwartung sind der Dauer der Untersuchungshaft Grenzen gesetzt:
„Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist nicht nur für die Anordnung, sondern auch für die Dauer der Untersuchungshaft von Bedeutung. Er verlangt, dass die Dauer der Untersuchungshaft nicht außer Verhältnis zur erwarteten Strafe steht, und setzt ihr auch unabhängig von der Straferwartung Grenzen (…). Das Gewicht des Freiheitsanspruchs vergrößert sich gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung regelmäßig mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft (…).
Im Rahmen der von den Fachgerichten vorzunehmenden Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Betroffenen und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit ist die Angemessenheit der Haftfortdauer anhand objektiver Kriterien des jeweiligen Einzelfalls zu prüfen; insofern sind in erster Linie die Komplexität der einzelnen Rechtssache, die Vielzahl der beteiligten Personen und das Verhalten der Verteidigung von Bedeutung (…).“
Das Beschleunigungsgebot erfordert es, dass im Durchschnitt mehr als einmal pro Woche verhandelt wird:
(…) „Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen (…).
An den zügigen Fortgang des Verfahrens sind dabei umso strengere Anforderungen zu stellen, je länger die Untersuchungshaft schon andauert. So ist nach Anklageerhebung bei Entscheidungsreife über die Zulassung der Anklage zur Hauptverhandlung zu beschließen und im Regelfall innerhalb von weiteren drei Monaten mit der Hauptverhandlung zu beginnen (…). Bei absehbar umfangreicheren Verfahren ist stets eine vorausschauende, auch größere Zeiträume umgreifende Hauptverhandlung mit mehr als einem durchschnittlichen Hauptverhandlungstag pro Woche notwendig (…).“
Eine Aufrechterhaltung von Untersuchungshaft kommt in der Regel nicht in Betracht, wenn der Ursprung der Verfahrensverzögerungen grundsätzlicher Natur ist; insbesondere rechtfertigt die Überlastung des Gerichts keine Haftfortdauer:
„Zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und zur Sicherstellung der Strafvollstreckung kann die Untersuchungshaft dann nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn ihre Fortdauer durch Verfahrensverzögerungen verursacht ist, die ihre Ursache nicht in dem konkreten Strafverfahren haben. Von dem Beschuldigten nicht zu vertretende, sachlich nicht gerechtfertigte und vermeidbare erhebliche Verfahrensverzögerungen stehen regelmäßig einer weiteren Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft entgegen (…). Allein die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung vermögen bei erheblichen, vermeidbaren und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen nicht zur Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft zu dienen (…).
Die nicht nur kurzfristige Überlastung eines Gerichts kann insofern niemals Grund für die Anordnung der Haftfortdauer sein. Vielmehr kann die nicht nur kurzfristige Überlastung eines Gerichts selbst dann die Fortdauer der Untersuchungshaft nicht rechtfertigen, wenn sie auf einem Geschäftsanfall beruht, der sich trotz Ausschöpfung aller gerichtsorganisatorischen Mittel und Möglichkeiten nicht mehr innerhalb angemessener Fristen bewältigen lässt (…).
Die Überlastung eines Gerichts fällt – anders als unvorhersehbare Zufälle und schicksalhafte Ereignisse – in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft. Dem Beschuldigten darf nicht zugemutet werden, eine längere als die verfahrensangemessene Aufrechterhaltung des Haftbefehls nur
deshalb in Kauf zu nehmen, weil der Staat es versäumt, seiner Pflicht zur rechtzeitigen verfassungsgemäßen Ausstattung der Gerichte zu genügen (…).
Da der Grundrechtsschutz auch durch die Verfahrensgestaltung zu bewirken ist (…). In der Regel sind in jedem Beschluss über die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft aktuelle Ausführungen zu dem weiteren Vorliegen ihrer Voraussetzungen, zur Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit geboten, weil sich die dafür maßgeblichen Umstände angesichts des Zeitablaufs in ihrem Gewicht verschieben können (…).
Die zugehörigen Ausführungen müssen in Inhalt und Umfang eine Überprüfung des Abwägungsergebnisses am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht nur für den Betroffenen selbst, sondern auch für das die Anordnung treffende Fachgericht im Rahmen einer Eigenkontrolle gewährleisten und in sich schlüssig und nachvollziehbar sein (…). Eine Überprüfung der fachgerichtlichen Entscheidung auf die zutreffende Anwendung einfachen Rechts nimmt das BVerfG hingegen ausschließlich im Rahmen des Willkürverbots vor (…)
Diesen Vorgaben genügt der angegriffene Beschluss des OLG Zweibrücken nicht. Er zeigt keine besonderen Umstände auf, die die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft verfassungsrechtlich hinnehmbar erscheinen lassen könnten, und wird damit den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Begründung von Haftfortdauerentscheidungen nicht gerecht.“
(…)
Zusammenfassung:
Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen bedeutet, dass Untersuchungshaft von mehr als einem Jahr bis zum Beginn der Hauptverhandlung oder dem Erlass des Urteils nur in ganz besonderen Ausnahmefällen zu rechtfertigen ist, sowie dass nach Anklageerhebung bei Entscheidungsreife über die Zulassung der Anklage zu beschließen und im Regelfall innerhalb von weiteren drei Monaten mit der Hauptverhandlung zu beginnen ist.
Es ist eine Hauptverhandlung mit mehr als einem durchschnittlichen Hauptverhandlungstag pro Woche notwendig.