Keine Hemmschwelle (mehr) bei Tötungsdelikten?
Zur Abgrenzung von Vorsatz und Fahrlässigkeit: BGH, Urt. v. 5.12.2017 − 1 StR 416/17
Am Tattag kam es zwischen dem alkoholisierten Angeklagten und dem später geschädigten Zeugen M zunächst zu einer kurzen verbalen und geringfügig tätlichen Auseinandersetzung in der von beiden bewohnten Asylbewerberunterkunft. Der Streit wurde durch das Eingreifen Dritter beendet und der Angeklagte in sein Zimmer gebracht.
Kurze Zeit später kehrte er allerdings zurück, trat die Tür zu dem Zimmer ein, in dem sich der Zeuge M aufhielt und griff mit einem Messer bewaffnet den auf einem Bett sitzenden Zeugen an. Während der Angeklagte rief, er werde den Zeugen umbringen, stach er dreimal von oben nach unten in Richtung von dessen Oberkörper. Dem M gelang es, die Stiche jeweils auf unterschiedliche Weise abzuwehren. Nach dem dritten Stich wurde der Angeklagte, der weiter entweder mit dem zuvor benutzten oder einem anderen, erstmals zur Hand genommenen, Messer gegen den Zeugen M vorgehen wollte, von anderen Bewohnern festgehalten und einem Mitarbeiter des für die Unterkunft zuständigen Sicherheitsdienstes übergeben. Der Zeuge M erlitt u. a. eine Schnittverletzung an der Hand.
Das Landgericht hat hinsichtlich des Vorgehens gegen den Zeugen M einen (wenigstens) bedingten Tötungsvorsatz des alkoholbedingt nicht ausschließbar in seiner Steuerungsfähigkeit erheblich eingeschränkten Angeklagten verneint und ihn insoweit (lediglich) wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt. Hiergegen hat sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer auf die Sachrüge gestützten Revision erfolgreich gewandt.
Das Landgericht hat die Ablehnung eines bedingten Tötungsvorsatzes des Angekl. bei den Messerstichen gegen den Zeugen M auf mehrere Aspekte gestützt, denen es wichtige indizielle Bedeutung gegen ein billigendes Inkaufnehmen des Todes des Zeugen beigemessen hat.
So habe es sich um eine Spontantat gehandelt, bei der der Angeklagte erheblich alkoholbedingt enthemmt war. Auch sei bei den Stichen nicht näher eingrenzbar gewesen, wohin der Angekl. genau habe treffen wollen. Zudem konnte das Landgericht kein überzeugendes konkretes Tötungsmotiv erkennen.
Die der Ablehnung eines bedingten Tötungsvorsatzes zugrunde liegenden Erwägungen erweisen sich – auch unter Berücksichtigung des eingeschränkten revisionsgerichtlichen Prüfungsmaßstabs nach Auffassung des Bundesgerichtshofes als rechtfehlerhaft. Das Landgericht habe seiner Beweiswürdigung bereits einen nicht rechtsfehlerfreien rechtlichen Maßstab zugrunde gelegt. Zudem habe das Landgericht insbesondere überzogene Anforderungen an die eigene Überzeugungsbildung gestellt.
Bedingt vorsätzliches Handeln setzt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes voraus, dass der Täter den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges als möglich und nicht ganz fernliegend erkennt, ferner dass er ihn billigt oder sich um des erstrebten Zieles willen zumindest mit der Tatbestandsverwirklichung abfindet.
Je gefährlicher die Gewaltanwendung, desto näher liegt der Tötungsvorsatz
Bezogen auf bedingten Tötungsvorsatz liege bei äußerst gefährlichen Gewalthandlungen nahe, dass der Täter mit der Möglichkeit rechnet, das Opfer könne zu Tode kommen und – weil er mit seinem Handeln gleichwohl fortfährt – einen solchen Erfolg billigend in Kauf nimmt. Zwar könnten das Wissens- oder das Willenselement des Eventualvorsatzes gleichwohl im Einzelfall fehlen, so etwa, wenn dem Täter, obwohl er alle Umstände kennt, die sein Vorgehen zu einer das Leben gefährdenden Behandlung machen, das Risiko der Tötung infolge einer psychischen Beeinträchtigung – z. B. Affekt, alkoholische Beeinflussung oder hirnorganische Schädigung– zur Tatzeit nicht bewusst ist (Fehlen des Wissenselements) oder wenn er trotz erkannter objektiver Gefährlichkeit der Tat ernsthaft und nicht nur vage auf ein Ausbleiben des tödlichen Erfolges vertraut (Fehlen des Willenselements).
Auf der Ebene der Beweiswürdigung sei eine Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Tatumstände erforderlich.
Soweit in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes im Rahmen der gebotenen Gesamtschau auf eine „für Tötungsdelikte deutlich höhere Hemmschwelle“ abgestellt worden sei, erschöpfe sich dies in einem Hinweis auf die Bedeutung des Grundsatzes der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 261 StPO) bezüglich der Überzeugungsbildung vom Vorliegen eines (wenigstens) bedingten Tötungsvorsatzes.
Hemmschwelle darf andere Beweisanzeichen nicht relativieren
Der Bundesgerichtshof habe immer wieder hervorgehoben, dass durch den Aspekt der „Hemmschwelle“ die Wertung der hohen und offensichtlichen Lebensgefährlichkeit von Gewalthandlungen als ein gewichtiges, auf Tötungsvorsatz hinweisendes Beweisanzeichen nicht in Frage gestellt oder auch nur relativiert werden solle.
Die Ausführungen des Landgerichts ließen besorgen, dass dieses rechtsfehlerhaft der „hohen Hemmschwelle gegenüber einer Tötung“ eine den indiziellen Wert des objektiven Gefährlichkeitsgrades der vom Angeklagten ausgeführten Messerstiche relativierende Wirkung beigemessen hat, die dem Aspekt der „Hemmschwelle“ nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes nicht zukommt. So führe das Landgericht gerade die „Hemmschwelle“ als Grund dafür an, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass der Angeklagte die Gefahr der Tötung nicht erkannt oder zumindest darauf vertraut habe, ein als möglich erkannter Erfolg werde nicht eintreten. Darüber hinaus rekurriere das Landgericht beweiswürdigend auf die „Hemmschwelle“ auch bei der Prüfung eines möglichen Beweggrunds des Angekl. und führe aus, es sei kein „überzeugendes konkretes Tötungsmotiv“ erkennbar, das geeignet gewesen wäre, die „Hemmschwelle zur Tötung“ erklärbar zu überwinden.
Auch enthalte die weitere Beweiswürdigung zur objektiven Gefährlichkeit der Messerstiche Rechtsfehler.
Die Annahme des Landgerichts, es sei nicht näher eingrenzbar, wo der Angeklagte genau habe treffen wollen, beruhe auf einer lückenhaften Beweiswürdigung. Es werde in diesem Zusammenhang weder die geäußerte Tötungsabsicht noch das mehrfache und lediglich durch das Eingreifen weiterer Personen letztlich beendete Einstechen berücksichtigt. Die die Bedeutung der geäußerten Tötungsabsicht relativierende Bewertung, es könne sich um „verbale Kraftmeierei“ oder „Ausdruck von Erregung“ handeln, blende die Entwicklung bis hin zu den Stichen aus. Der Angeklagte sei bereits zuvor in eine auch tätliche Auseinandersetzung mit dem Zeugen verwickelt gewesen und habe von sich aus nach Entfernung aus dem Zimmer des Zeugen erneut die Konfrontation, dieses Mal unter Einsatz eines Messers, gesucht.
„Im Zweifel zugunsten des Angeklagten“ gilt erst nach abgeschlossener Beweiswürdigung
Im Übrigen habe das Landgericht bei der Annahme, es müsse zugunsten des Angekl. davon ausgegangen werden, dieser habe lediglich irgendwo auf den Bereich des Oberkörpers einwirken wollen, also nicht ausschließbar lediglich auf die Schultern oder Arme, die Bedeutung des Zweifelsgrundsatzes verkannt. Dieser ist auf einzelne Elemente der Beweiswürdigung nicht anzuwenden.
Ein weiterer Rechtsfehler der Beweiswürdigung zum bedingten Tötungsvorsatz liege darin, dass das Landgericht die erforderliche Gesamtschau aller objektiven und subjektiven lediglich formelhaft vorgenommen habe. Eine solche Gesamtschau dürfe – nicht anders als hinsichtlich der auf die Täterschaft bezogenen Beweiswürdigung – sich nicht darauf beschränken, die jeweiligen Indizien gesondert zu erörtern und auf ihren jeweiligen Beweiswert zu prüfen.
So verhalte es sich jedoch vorliegend.
Das LG handele mehrere Indiztatsachen nacheinander ab, denen es Gewicht mit einer Beweisrichtung gegen die Willenskomponente des bedingten Tötungsvorsatzes zumesse. Es versäume jedoch, diese Umstände von indizieller Bedeutung in ihrer Zusammenschau zu würdigen und zu erwägen, ob sich in der Gesamtbetrachtung eine andere Bewertungsrichtung ergeben könne. Zudem seine Umstände nicht in den Blick genommen worden, deren Berücksichtigung sich nach den getroffenen Feststellungen und der sonstigen Beweiswürdigung aufgedrängt habe.
Soweit das Landgericht im Hinblick auf das Vorgehen mit dem Messer von einer Spontantat ausgegangen sei, finde dies keine tragfähige Stütze in den sonstigen Feststellungen. Dem hier fraglichen Tatgeschehen war bereits eine auch tätliche Auseinandersetzung vorausgegangen, die durch das Eingreifen Dritter beendet worden war. Der Angeklagte hab eine erneute Konfrontation mit dem Zeugen M gesucht und sich – nach den Feststellungen nahe liegend – dafür durch eine Bewaffnung vorbereitet. Selbst unter Berücksichtigung der Alkoholisierung des allerdings alkoholgewöhnten Angeklagten sei die Spontanität der Tat nicht ausreichend belegt.
Entsprechendes gelte im Hinblick auf das vom Tatgericht als gegen die Willenskomponente sprechend gewertete Fehlen eines „überzeugenden konkreten“ Tatmotivs. Zwar sei die Strafkammer nicht gehindert gewesen, aus der festgestellten Freundschaft zwischen dem Angeklagten und dem geschädigten Zeugen einen gegen das Willenselement sprechenden Schluss zu ziehen. Abgesehen von der rechtsfehlerhaften Verknüpfung des vom Landgericht nicht gefundenen Tatmotivs mit der höheren Hemmschwelle, eine Tötungshandlung vorzunehmen, hätte es jedoch bei der Frage des Motivs die vorausgegangene Auseinandersetzung sowie die im Tatzeitpunkt hochgradige Aggressivität des Angeklagten berücksichtigen müssen.
Leitsätze des Gerichts:
- Die These, dass der Täter vor der Tötung eines Menschen hohe Hemmschwellen überwinden müsse, entfaltet bei der Diskussion des Vorliegens eines bedingten Tötungsversuchs keine tendenziell vorsatzkritische eigenständige Bedeutung.
- Der Bundesgerichtshof hat immer wieder hervorgehoben, dass durch den Aspekt der „Hemmschwelle“ die Wertung der hohen und offensichtlichen Lebensgefährlichkeit von Gewalthandlungen als ein gewichtiges, auf Tötungsvorsatz hinweisendes Beweisanzeichen nicht in Frage gestellt oder auch nur relativiert werden sollte.