Zur Haftung des Arbeitgebers bei betrieblich veranlasster Grippeschutzimpfung
BAG, Urteil vom 21.12.2017 – 8 AZR 853/16
Die Kl. war vom 16.5.2011 bis zum 18.5.2012 bei der Bekl., die ein Herzzentrum betreibt, als Angestellte im Controlling beschäftigt. Die dem Rechtsstreit aufseiten der Bekl. beigetretene Streitverkündete (im Folgenden Nebenintervenientin) ist als Ärztin approbiert und bei der Bekl. auf der Grundlage eines Vertrags vom 30.1.1997 als freiberufliche Betriebsärztin tätig.
In einer E-Mail vom 2.11.2011 an alle Beschäftigten der Bekl. heißt es:
„Aufruf zur Grippeschutzimpfung
Wir bieten dieses Jahr für alle interessierten Mitarbeiter/Innen einen Impftermin vor dem Speisesaal an:
Dienstag 08.11. von 12–14 Uhr
Dr. med. B, Ärztin für Arbeitsmedizin
Dr. med. W, Betriebsärztin.“
Am 8.11.2011 führte die Nebenintervenientin, die Ärztin für Arbeitsmedizin Dr. med. B – die erste Unterzeichnerin des Aufrufs – ohne Behandlungsfehler bei der Kl. die Grippeschutzimpfung in der Mittagszeit durch, wobei die Kosten der Impfung der Kl. – wie auch die der Impfung der anderen Beschäftigten – von der Bekl. getragen wurden.
Mit rechtskräftigem Gerichtsbescheid vom 21.4.2015 (S 3 U 68/14) wies das SG Freiburg die Klage der Kl. gegen die Berufsgenossenschaft, die Folgen der Grippeschutzimpfung als Arbeitsunfall anzuerkennen, ab.
Mit ihrer Klage begehrte die Kl. von der Bekl. Ersatz immaterieller und materieller Schäden wegen eines Impfschadens. Sie hat trägt vor, aufgrund der Grippeschutzimpfung vom 8.11.2011 erhebliche Folgeschäden und Folgeerkrankungen erlitten zu haben. Wenige Stunden nach der Impfung sei es bei ihr zu starken Schmerzen mit erheblicher Bewegungseinschränkung der Halswirbelsäule gekommen. Diese Schmerzen dauerten bis heute an. Die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit sei ihr nicht mehr möglich.
Die Klage hatte in den ersten beiden Instanzen kein Erfolg.
Mit der vorliegenden Entscheidung wurde auch die Revision der Kl. zurückgewiesen.
Das höchste deutsche Arbeitsgericht hat zunächst festgestellt, dass bereits kein Behandlungsvertrag zwischen der Kl. und der Bekl. zustande gekommen ist:
„Die Kl. hat keinen Anspruch auf Zahlung eines Schmerzensgelds aus §§ 280 I 1, 253 II 1 BGB. Zwischen den Parteien ist weder ein Behandlungsvertrag zustande gekommen, so dass die Bekl. hieraus resultierende Pflichten, insbesondere zur ordnungsgemäßen Aufklärung, nicht verletzten konnte, noch hat die Bekl. Pflichten aus dem zwischen den Parteien bestehenden Arbeitsverhältnis verletzt. Aus diesem Grund kann dahinstehen, ob die Nebenintervenientin die Kl. vor der Impfung ordnungsgemäß über die Risiken und möglichen Folgen der Grippeschutzimpfung aufgeklärt hatte und ob die von der Kl. behaupteten Gesundheitsbeschädigungen durch die Grippeschutzimpfung verursacht wurden.
Zwischen den Parteien ist kein Behandlungsvertrag zustande gekommen, aufgrund dessen die Bekl. verpflichtet gewesen wäre, die Kl. vor der Grippeschutzimpfung auf die Risiken und möglichen Folgen der Impfung hinzuweisen, weshalb sie sich insoweit ein etwaiges Fehlverhalten der Nebenintervenientin von vornherein nicht nach § 278 BGB zurechnen lassen muss.
Der Behandlungsvertrag ist eine besondere Form des Dienstvertrags (…). Nach § 630 a I BGB wird durch den Behandlungsvertrag derjenige, welcher die medizinische Behandlung eines Patienten zusagt (Behandelnder), zur Leistung der versprochenen Behandlung, der andere Teil (Patient) zur Gewährung der vereinbarten Vergütung verpflichtet, soweit nicht ein Dritter zur Zahlung verpflichtet ist. Dabei können der die Behandlung Zusagende und der die Behandlung tatsächlich Durchführende identisch sein, sie müssen es jedoch nicht (…). Nach § 630 e I 1 und 2 BGB ist der Behandelnde verpflichtet, den Patienten über sämtliche für die Einwilligung wesentlichen Umstände aufzuklären. Dazu gehören insbesondere Art, Umfang, Durchführung, zu erwartende Folgen und Risiken der Maßnahme sowie ihre Notwendigkeit, Dringlichkeit, Eignung und Erfolgsaussichten im Hinblick auf die Diagnose oder die Therapie. (..)“
Das BAG weist dann daraufhin, dass sich das Zustandekommen von Behandlungsverträgen nach den allgemeinen Vorschriften richtet und führt dann weiter aus:
„(…). Wer als Behandelnder die medizinische Behandlung eines Patienten zusagt, ist im Wege der Auslegung nach §§ 133, 157 BGB zu ermitteln (…).
Danach hat das LAG zu Recht angenommen, dass zwischen der Kl. und der Bekl. kein Behandlungsvertrag zustande gekommen ist. Nicht die Bekl., sondern die Nebenintervenientin hat der Kl. eine medizinische Behandlung als ihre Patientin zugesagt. Dafür spricht neben den übrigen – revisionsrechtlich nicht zu beanstandenden – Erwägungen des BerGer. insbesondere der an „alle interessierten Mitarbeiter/Innen“ gerichtete Impfaufruf der Nebenintervenientin und der Betriebsärztin Dr. med. W vom 2.11.2011, der der Behandlung der Kl. zugrunde lag und der als typische Erklärung vom Senat selbst ausgelegt werden kann (…).
Die Nebenintervenientin und Dr. med. W haben im eigenen Namen zur Impfung eingeladen. Sie haben den Aufruf nicht nur im eigenen Namen unterschrieben, sondern diesen mit „wir bieten dieses Jahr für
alle interessierten Mitarbeiter/Innen“ eingeleitet. Damit haben sie die Impfung der Beschäftigten als von ihnen im eigenen Namen zu erbringende Leistung angeboten. Zudem war aus dem Aufruf erkennbar, dass die Impfung in der Mittagszeit vor dem Speisesaal stattfinden sollte. Die Impfung sollte demnach nicht in einem gesonderten Behandlungsraum der Bekl. durchgeführt werden, über den diese als Krankenhaus ohne Weiteres verfügte und den sie ohne Weiteres hätte zur Verfügung stellen können, sondern in einem öffentlich zugänglichen Bereich innerhalb des Krankenhauses, in dem die Bekl. selbst üblicherweise keine Behandlungsleistungen erbringt. Auch dieser Umstand bestätigt, dass nicht die Bekl. oder von ihr im Rahmen eines Anstellungsverhältnisses beschäftigte Ärzte, sondern allein die aufrufenden Ärztinnen die Impfung und damit die Behandlung der Beschäftigten im eigenen Namen zugesagt haben und gegenüber den zur Impfung erscheinenden Beschäftigten im Einzelfall übernehmen wollten.
Dass die Bekl. die Kosten der Impfung getragen hat, begründet demgegenüber nicht die Annahme, sie habe auch die Behandlung zusagen oder sich zu dieser verpflichten wollen.
Frau Dr. med. W und die Nebenintervenientin haben in dem Impfaufruf auch nicht an anderer Stelle den Eindruck erweckt, als Angestellte der Bekl. bzw. deren Erfüllungsgehilfinnen in deren Pflichtenkreis tätig zu werden und damit die Bekl. als Vertragspartei des Behandlungsvertrags verpflichten zu wollen. Etwas anderes folgt nicht aus dem Umstand, dass Frau Dr. med. W den Aufruf als „Betriebsärztin“ unterzeichnet hat. Zum einen handelt es sich bei der „Betriebsmedizin“ lediglich um eine Zusatzbezeichnung, zu deren Führung der Arzt oder die Ärztin nach § 7 ArbMedVV berechtigt sein muss, um Maßnahmen der arbeitsmedizinischen Vorsorge durchführen zu dürfen; zum anderen wirkt sich aus, dass die Bekl. – wie jeder Arbeitgeber – nach § 2 III ASiG nicht verpflichtet ist, Betriebsärzte als Arbeitnehmer einzustellen, sondern diese auch als freiberufliche Betriebsärzte bestellen kann. Aus dem Umstand, dass eine Person zum Betriebsarzt bestellt ist, kann demnach nicht der Schluss gezogen werden, dass sie ihre Tätigkeiten in einem Anstellungsverhältnis erbringt. Es kommt hinzu, dass Frau Dr. med. W und die Nebenintervenientin gemeinsam zur Impfung aufgerufen haben und die Nebenintervenientin den Aufruf nicht als „Betriebsärztin“, sondern als „Ärztin für Arbeitsmedizin“ unterzeichnet hat, und dass in einem solchen Fall nicht davon auszugehen ist, dass eine der beiden Ärztinnen die Bekl. vertraglich binden wollte und die andere nicht. Eine andere Bewertung wäre auch dann nicht geboten, wenn den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bekl. allgemein bekannt gewesen sein sollte, dass die Nebenintervenientin regelmäßig als Betriebsärztin für die Bekl. tätig geworden war. Wie bereits ausgeführt, kann vor dem Hintergrund der in § 2 III ASiG getroffenen Regelung aus dem Umstand, dass eine Person als Betriebsarzt tätig wird, nicht der Schluss gezogen werden, dass sie ihre Tätigkeiten in einem Anstellungsverhältnis erbringt. (…).“
Da somit nicht vom Zustandekommen eines Arbeitsvertrages auszugehen war, kam es für den Erfolg der Klage entscheidend darauf an, ob sich die Pflicht zur Zahlung eines Schmerzensgeldes aus dem Arbeitsverhältnis selbst ergab.
Auch dies hat das Bundesarbeitsgericht verneint:
„(…) Die Bekl. ist der Kl. gegenüber auch nicht aus dem Arbeitsverhältnis der Parteien zur Zahlung eines Schmerzensgelds verpflichtet. Dies folgt bereits daraus, dass die Bekl. keine Pflichten aus dem zum Zeitpunkt der Impfung bestehenden Arbeitsverhältnis verletzt hat. Zwar war die Bekl. nach § 241 II BGB zur ordnungsgemäßen Auswahl der die Impfung durchführenden Person verpflichtet. Dieser Verpflichtung ist sie mit der Auswahl der Nebenintervenientin indes nachgekommen. Weitergehende Verpflichtungen bestanden für die Bekl. nicht. Insbesondere war die Bekl. nicht verpflichtet, die Nebenintervenientin bei Ausführung der Grippeschutzimpfung zu überwachen und dafür Sorge zu tragen bzw. sicherzustellen, dass diese ihrer aus dem mit der Kl. geschlossenen Behandlungsvertrag folgenden Pflicht zur Aufklärung der Kl. über die Risiken und möglichen Folgen der Impfung nachkam. Die Bekl. war nach § 241 II BGB auch nicht selbst zur Aufklärung der Kl. verpflichtet, weshalb sie sich ein etwaiges Fehlverhalten der Nebenintervenientin nicht nach § 278 BGB zurechnen lassen müsste.“
Sodann äußert sich das Gericht zur grundsätzlich bestehenden Pflicht des Arbeitgebers Gefahren von seinen Arbeitnehmern abzuwenden:
„Nach § 241 II BGB erwachsen jeder Vertragspartei aus einem Schuldverhältnis nicht nur Leistungs-, sondern auch Verhaltenspflichten zur Rücksichtnahme und zum Schutz der Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils. Danach ist der Arbeitgeber verpflichtet, auf das Wohl und die berechtigten Interessen des Arbeitnehmers Rücksicht zu nehmen und ihn vor Gesundheitsgefahren zu schützen (…).
Schafft der Arbeitgeber im Arbeitsverhältnis eine Gefahrenlage – gleich welcher Art –, ist er grundsätzlich verpflichtet, die notwendigen und zumutbaren Vorkehrungen zu treffen, um eine Schädigung der Beschäftigten möglichst zu verhindern. Er muss die Maßnahmen ergreifen, die ein umsichtiger und verständiger, in vernünftigen Grenzen vorsichtiger Arbeitgeber für notwendig und ausreichend hält, um andere vor Schäden zu bewahren (…). Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass der Arbeitgeber nicht jeder abstrakten Gefahr vorbeugend begegnen kann. Haftungsbegründend wird eine Gefahr erst, wenn sich für ein sachkundiges Urteil die nahe liegende Möglichkeit ergibt, dass Rechtsgüter anderer verletzt werden. Deshalb muss nicht für alle denkbaren Möglichkeiten eines Schadenseintritts Vorsorge getroffen werden. Es sind zudem nur die Vorkehrungen zu treffen, die geeignet sind, die Schädigung anderer tunlichst abzuwenden. Der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt ist genügt, wenn im Ergebnis derjenige Sicherheitsgrad erreicht ist, den die in dem entsprechenden Bereich herrschende Verkehrsauffassung für
erforderlich hält. Daher reicht es aus, diejenigen Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, die ein verständiger, umsichtiger, vorsichtiger und gewissenhafter Arbeitgeber für ausreichend halten darf, um die Arbeitnehmer vor Schäden zu bewahren und die den Umständen nach zuzumuten sind (…).“
Insbesondere ergeben sich Hinweis- und Aufklärungspflichten:
„(..) Nach § 241 II BGB kann der Arbeitgeber auch verpflichtet sein, von sich aus geeignete Hinweise zu geben bzw. entsprechende Aufklärung zu leisten. So kann der Arbeitgeber unter Umständen verpflichtet sein, den Arbeitnehmer unaufgefordert über Umstände zu informieren, die dem Arbeitnehmer unbekannt, aber für seine Entscheidungen im Zusammenhang mit der Durchführung des Arbeitsvertrags erheblich sind (…). Grundsätzlich hat allerdings innerhalb vertraglicher Beziehungen jede Partei für die Wahrnehmung ihrer Interessen selbst zu sorgen. Hinweis- und Aufklärungspflichten beruhen auf den besonderen Umständen des Einzelfalls und sind das Ergebnis einer umfassenden Interessenabwägung (…).“
Durch das Angebot einer Grippeschutzimpfung hat die Beklagte grundsätzlich eine Gefahrenquelle geschaffen.
„(…) Zwar hat die Bekl. dadurch, dass sie es ihren Beschäftigten und damit auch der Kl. ermöglicht hat, sich durch die Nebenintervenientin oder Dr. med. W in ihrem Betrieb gegen Grippe impfen zu lassen, eine Gefahrenquelle geschaffen. Es war nicht auszuschließen, dass sich die mit der Grippeschutzimpfung verbundenen typischen Risiken, dass die Beschäftigten in ihrer Gesundheit beeinträchtigt würden, verwirklichen würden. Aufgrund dessen war die Bekl. allerdings nur zur ordnungsgemäßen Auswahl der die Impfung durchführenden Person verpflichtet. Dieser Verpflichtung ist die Bekl. – soweit im vorliegenden Verfahren von Interesse – dadurch nachgekommen, dass sie die Nebenintervenientin damit beauftragt hat, allen interessierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein Angebot auf Durchführung der Grippeschutzimpfung in ihrem Betrieb zu machen und die Impfung gegebenenfalls durchzuführen. Weitergehende Verpflichtungen bestanden für die Bekl. nicht. Insbesondere war sie nicht zur Überwachung der Nebenintervenientin bei Ausführung der Grippeschutzimpfung verpflichtet. Sie hatte auch weder Sorge dafür zu tragen bzw. sicherzustellen, dass diese ihrer aus dem mit der Kl. geschlossenen Behandlungsvertrag folgenden Pflicht zur Aufklärung der Kl. über die Risiken und möglichen Folgen der Impfung nachkam, noch war sie nach § 241 II BGB selbst zur Aufklärung der Kl. verpflichtet.“
Zusammenfassung:
Schafft der Arbeitgeber im Arbeitsverhältnis eine Gefahrenlage – gleich welcher Art –, muss er nach § § 241 Absatz II BGB grundsätzlich die notwendigen und zumutbaren Vorkehrungen treffen, um eine Schädigung der Beschäftigten so weit wie möglich zu verhindern. Hierzu muss er die Maßnahmen ergreifen, die ein umsichtiger und verständiger, in vernünftigen Grenzen vorsichtiger Arbeitgeber für notwendig und ausreichend halten darf, um die Beschäftigten vor Schäden zu bewahren.