Kein Fluchtanreiz durch drohende Bewährungsstrafe
Beschluss des Landgerichts Frankfurt (Oder) vom 12. September 2019 , 23 Qs 48/19
Aus dem Sachverhalt:
Das Amtsgericht Frankfurt (Oder) hat gegen den Beschuldigten auf Antrag der Staatsanwaltschaft Frankfurt (Oder) am 31. Juli 2019 ein Haftbefehl erlassen. Ihm wird im Wesentlichen vorgeworfen, am 30. Juli 2019 in Frankfurt (Oder) und an anderen Orten versucht zu haben, gewerbsmäßig als Mitglied einer Bande, die sich zur fortgesetzten Begehung von Diebstahl und Hehlerei verbunden hat, einen andernorts von unbekannt gebliebenen Mittätern entwendeten Pkw gegen Entlohnung nach Polen zu verbringen.
Es bestehe gegen den Beschuldigten der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO, weil er eine hohen Fluchtanreiz bietende Freistrafe zu erwarten habe. Auch sei er zu dem nach bisherigen Erkenntnissen Polen erheblich einschlägig vorbestraft. Er sei auch Ausländer ohne Wohnsitz oder Aufenthaltsort in Deutschland und hier ohne jegliche soziale persönliche Bindungen.
Aus den Gründen:
Solange keine rechtskräftige Verurteilung vorliegt, gilt für jedermann die Unschuldsvermutung. Einen Beschuldigten zu inhaftieren, ohne dass dessen Schuld festgestellt ist, stellt daher stets einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff dar. Unabweisbare Bedürfnisse der Strafrechtspflege können gleichwohl im Einzelfall einen solchen Eingriff in Form der Untersuchungshaft rechtfertigen.
Neben einem dringenden Tatverdacht, d. h. der hohen Wahrscheinlichkeit, dass der Beschuldigte eine Straftat begangen hat, kommt dem Vorliegen eines Haftgrundes besondere Bedeutung zu. Am häufigsten werden Haftbefehle mit Fluchtgefahr begründet. Eine solche kann nur angenommen werden, wenn Tatsachen vorliegen, die eine überwiegende Wahrscheinlichkeit begründen, dass sich ein Beschuldigter dem Verfahren entziehen wird.
Die Staatsanwaltschaft stützt ihre diesbezüglichen Anträge auf einen vermeintlichen Fluchtanreiz, der sich aus einer hohen Straferwartung ergeben soll. Bei der gebotenen Betrachtung des konkreten Einzelfalls, erweist sich dies häufig als zweifelhaft. Auf meine Beschwerde hat daher das Landgericht Frankfurt (Oder) in der hier dargestellten Entscheidung, den Haftbefehl aufgehoben:
„(…) Es bestehen bereits erhebliche Bedenken hinsichtlich der ihm zur Last gelegten Straftat der versuchten gewerbsmäßigen Bandenhehlerei gemäß § 260 a StGB, weil insoweit der unübersichtlich geführten Akte in Kopieform keine konkreten Tatsachenhinweise zu der gewerbsmäßigen Begehung der versuchten Hehlerei als Mitglied einer Bande, die sich zur fortgesetzten Begehung von Diebstahl oder Hehlerei verbunden hat, zu entnehmen sind. Zum jetzigen Zeitpunkt dürfte ein dringender Tatverdacht jedenfalls hinsichtlich der versuchten gewerbsmäßigen Bandenhehlerei nicht vorliegen.“
Schon bei der Frage, ob überhaupt eine dringender Tatverdacht wegen gewerbs- und bandenmäßiger Begehung besteht, legt das Landgericht „den Finger in die Wunde“. Denn nicht selten kommt es vor, dass die Strafverfolgungsbehörden ohne validen Anhaltspunkt im konkreten Einzelfall pauschal die Voraussetzungen des § 260a StGB bejahen, mit dem Ziel wegen der im Vergleich zur einfachen Hehlerei erhöhten Strafandrohung einen Fluchtanreiz begründen zu können. Dass diese Praxis – zurückhaltend formuliert – zweifelhaft ist, lässt sich bereits an der verschwindend geringen Anzahl rechtskräftiger Verurteilungen wegen gewerbs- und bandenmäßiger Begehungsweise im Verhältnis zu den hierauf gestützten Haftbefehlen ablesen.
Das Landgericht scheint dieser Praxis (nunmehr) kritisch gegenüber zu stehen.
Darüber hinaus fehlte es auch an einem Haftgrund:
„Vorliegend mangelt es bei der Gesamtschau der Umstände des Falles an einem Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO. Der Beschuldigte hat einen Wohnsitz in Polen und dort gefestigte soziale Bindungen zu seiner Lebensgefährtin und ihren zwei Kindern, sowie zu seiner Mutter. Die vom Amtsgericht angenommene hohe Straferwartung erscheint aufgrund des derzeitigen Ermittlungsstandes nicht gegeben, so dass auch diese keinen erhöhten Fluchtanreiz bietet. Hierbei ist auch zu bedenken, dass der Beschuldigte in Deutschland strafrechtlich noch nicht in Erscheinung getreten ist. Die Kammer verkennt nicht, dass der Beschuldigte die ihm zur Last gelegten Straftaten der versuchten Hehlerei und des Fahrens ohne Fahrerlaubnis während laufender Bewährungszeit in Polen begangen haben dürfte, dies wiegt jedoch aufgrund seiner bisherigen Straffreiheit in der Bundesrepublik Deutschland ausnahmsweise als nicht so schwer, dass daraus ein Rückschluss auf eine erhebliche und nicht mehr bewährungsfähige Freiheitsstrafe, die vorliegend allein die Fluchtgefahr begründen könnte, zu treffen wäre.“
Die Höhe der zu erwartenden Strafe richtet sich in erster Linie nach dem Strafrahmen des Delikts, welches der Täter verwirklicht hat. Die Hehlerei sieht, ebenso wie etwa eine (einfache) Körperverletzung Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren vor. Hinzukommt, dass die Tat vorliegend lediglich versucht wurde, was eine fakultative Strafmilderung ermöglicht.
Bei einem nicht vorbestraften Beschuldigten in geordneten Verhältnissen, der dringend verdächtig ist, versucht zu haben, einem anderen einen Faustschlag zu versetzen, diesen aber verfehlt, würde wohl niemand auf die Idee verfallen, Untersuchungshaft zu beantragen. Natürlich mag man einwenden, dass der Strafrahmen nur eines von mehreren Kriterien für die Strafhöhe ist. Auch könnte man erwägen, dass im Hinblick auf den Wert des Autos der versuchten Hehlerei zu differenzieren sein könnte. Auf der anderen Seite erscheint es diskutabel, dem Schutz von Sachwerten einen derart erhöhten Stellenwert im Vergleich zum Schutz der körperlichen Integrität zukommen zu lassen.
Begrüßenswert ist jedenfalls auch, dass das Landgericht, davon auszugehen scheint, dass ein Fluchtanreiz ohnehin nur von nicht mehr bewährungsfähigen Strafen ausgehen kann. Da gem. § 56 Abs.2 StGB die Vollstreckung von Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren zur Bewährung ausgesetzt werden können, dürften nach den dargelegten Maßstäben für Ersttäter einer versuchten Hehlerei zukünftig keine Haftbefehle mehr ergehen.
Zusammenfassung:
Fluchtgefahr, die maßgeblich auf den durch die Höhe der zu erwartenden Strafe angenommenen Fluchtanreiz gestützt wird, setzt eine zu erwartende Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren voraus.