Eigenmächtige Bildaufnahmen von Kindern im Schlafraum einer Kindertagesstätte
LG Berlin, Beschl. v. 4.6.2020 − 515 Qs 39/20
Zum Sachverhalt:
Die StA führt gegen den Beschuldigten ein Ermittlungsverfahren wegen Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen. Aus den Angaben der Zeugin K ergab sich, dass der Beschuldigte am 29.8.2019 vom Gehweg aus mit seinem Mobiltelefon durch ein geöffnetes Fenster in den Schlafraum der von ihr geleiteten Kindertagesstätte fotografierte, in dem mehrere nur noch mit Unterwäsche bekleidete Kinder gerade ihren Mittagsschlaf antreten sollten. Darauf gestützt hat die StA einen richterlichen Durchsuchungsbeschluss für die Wohnung des Beschuldigten erwirkt und dort dessen Mobiltelefon sichergestellt. Die hiergegen gerichtete Beschwerde hat keinen Erfolg.
Aus den Gründen:
Die Entscheidung beschäftigt sich mit der spannenden Frage, wie das Tatbestandsmerkmal eines „besonders geschützten Raumes“ im Sinne von Paragraf 201a StGB auszulegen ist, ob etwa das Vorliegen eines physischen Sichtschutzes erforderlich ist.
Letzteres wird vom Landgericht Berlin verneint:
„Gegen den Beschuldigten bestand zum Zeitpunkt der Anordnung der Wohnungsdurchsuchung der nach § 102 StPO erforderliche Anfangsverdacht einer Straftat, nämlich eines Vergehens nach § 201 a Abs. 1 Nr. 1 StGB. Die Handlung des Beschuldigten ist geeignet, den Tatbestand des § 201 a Abs. 1 Nr. 1 StGB zu erfüllen. Zwar befanden sich die Kinder – worauf die Beschwerde zu Recht hinweist – zur Tatzeit nicht in einer Wohnung im Sinne von § 201 a Abs. 1 Nr. 1 Var. 1 StGB. Hierzu gehören nämlich nur Räumlichkeiten, deren Hauptzweck darin besteht, Menschen zur ständigen Benutzung zu dienen, ohne dass sie in erster Linie Arbeitsräume sind (…), nicht aber Schulen oder Einrichtungen der Kinderbetreuung.
Bei einer Kindertagesstätte handelt es sich aber regelmäßig – und auch hier – um einen gegen Einblick besonders geschützten Raum im Sinne von § 201 a Abs. 1 Nr. 1 Var. 2 StGB. Der Gesetzgeber wollte mit der Schaffung von § 201 a StGB die Intimsphäre auch mit den Mitteln des Strafrechts gegen unbefugte Bildaufnahmen schützen, den Strafschutz dabei aber auf den „letzten Rückzugsbereich“ des Einzelnen beschränken (vgl. BT-Dr. 15/2466, 5). Mit diesem Schutzzweck ist es nicht zu vereinbaren, die Verwirklichung des (unglücklich formulierten) Tatbestands davon abhängig zu machen, ob der Raum, in dem sich der Geschädigte bei der Tatbegehung aufhält, objektiv über einen Sichtschutz verfügt (…).
Denn es kommt entscheidend auf die Lebensumstände des Geschädigten an, ob er sich an einem Rückzugsort aufhält, an dem er seine Intimsphäre vor unbefugten Bildaufnahmen geschützt wähnt – vergleichbar der von § 201 Abs. 1 Nr. 1 StGB ebenfalls erfassten Wohnung. Bei Kleinkindern gehören auch Kindertagesstätten ohne besonderen Sichtschutz zu solchen Rückzugsorten, was sich insbesondere aus dem Umstand ergibt, dass die dort betreuten Kinder bei der Wahl ihres Aufenthaltsorts und dem dadurch bedingten Schutz ihrer Intimsphäre nicht frei, sondern von ihren Eltern und Erziehern abhängig sind, und es ihnen altersbedingt an der Fähigkeit fehlt, für sich selbst einen Rückzugsort zu definieren und aufzusuchen. Dass es bei der Auslegung des Tatbestandsmerkmals des gegen Einblick besonders geschützten Raums nicht nur auf faktische Gegebenheiten, sondern maßgeblich auf den Schutzzweck der Norm ankommt, zeigt übrigens auch der Vergleich mit der Betreuung von Kleinkindern durch eine Tagesmutter in deren im Erdgeschoss gelegener Wohnung, in der unbefugte Bildaufnahmen den Tatbestand des § 201 a Abs. 1 Nr. 1 StGB ohne weiteres erfüllen können: Gründe, den strafrechtlichen Schutz aus § 201 a StGB von der Art der Kinderbetreuung abhängig zu machen, liegen nicht vor; eine solche Unterscheidung hatte der Gesetzgeber bei der Schaffung von § 201 a StGB ersichtlich auch nicht im Sinn.“
Auch mit seiner Auffassung, es bestehe das Strafverfolgungshindernis des fehlenden Strafantrags, drang der Beschwerdeführer nicht durch:
„2. Soweit der Beschuldigte meint, der Anordnung der Durchsuchung stehe bereits ein Verfahrenshindernis entgegen, weil ein nach § 205 Abs. 1 StGB erforderlicher Strafantrag nicht rechtzeitig gestellt wurde und „an keiner Stelle der Akten eine Auseinandersetzung mit der Bejahung des öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung zu verzeichnen“ sei, verfängt dieser Einwand nicht. Denn bereits durch den hier verfahrensgegenständlichen Antrag, die Durchsuchung der Wohnung des Beschuldigen anzuordnen, hat die StA eindeutig zum Ausdruck gebracht, ein Einschreiten wegen des besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung für geboten zu halten.
3. Schließlich liegt auch kein Verstoß gegen das Übermaßverbot vor. Insbesondere versprach die am 16.10.2019 angeordnete Durchsuchung noch Erfolg, auch wenn dem Beschuldigten bereits seit Mitte September 2019 das gegen ihn eingeleitete Ermittlungsverfahren bekannt war, nachdem die Polizei ihm ein Schreiben mit der Gelegenheit zur schriftlichen Äußerung zum Tatvorwurf übersandt hatte. Denn für die Annahme, der Beschuldigte könnte die gesuchten Foto-Dateien unwiederbringlich gelöscht haben, bestanden keine Anhaltspunkte. Der Umstand, dass die angefochtene Entscheidung infolge Personalmangels bei der Berliner Polizei erst etwa drei Monate nach ihrem Erlass vollstreckt worden ist, führt ebenfalls nicht zur Unverhältnismäßigkeit der Durchsuchungsanordnung, zumal auf anderem Weg Beweismittel zur Aufklärung des Sachverhalts ersichtlich nicht zu erlangen waren.“
Zusammenfassung:
Der Schlafraum einer Kindertagesstätte ist (unabhängig von einem Sichtschutz) ein gegen Einblick besonders geschützter Raum im Sinne von § 201 a I Nr. 1 StGB.