Beweiswürdigung bei wiederholtem Wiedererkennen
OLG Brandenburg, Beschl. v. 25.1.2017 − (1) 53 Ss 74/16 (I/17)
Wiedererkennen eines Zwillings
Die Staatsanwaltschaft Potsdam warf dem Angeklagten vor, ein Cross-Motorrad auf öffentlichen Wegen geführt zu haben, obwohl die erforderliche Haftpflichtversicherung nicht oder nicht mehr bestanden habe. Des Weiteren soll der Angeklagte am selben Ort und zur selben Zeit eine Zeugin mit dem Wort „Fotze“ geschmäht und diese angespuckt haben.
Im Zuge der Ermittlungen hatte die Zeugin den Angeklagten bei einer am 12. August 2014 durchgeführten Wahllichtbildvorlage mit 8 Vergleichfotos als Täter auf Foto 6 wiedererkannt. Unter den Fotos befand sich unter der Nummer 1 auch ein Foto von dem eineiigen Zwillingsbruder des Angeklagten. Während das verwendete Foto des Angeklagten aus einer erkennungsdienstlichen Behandlung vom 31. Juli 2011 stammte, war das Foto des Zwillingsbruders am 18. April 2014 ebenfalls anlässlich einer erkennungsdienstlichen Behandlung gefertigt worden.
Das Amtsgericht hat mit Urteil vom 5. Februar 2015 den Angeklagten von den Tatvorwürfen freigesprochen, nachdem die Zeugin in der Hauptverhandlung keine Aussage darüber treffen konnte, ob der Angeklagte oder dessen Zwillingsbruder der Täter gewesen war.
Gegen dieses Urteil hat die Staatsanwaltschaft Berufung eingelegt. Am 3. August 2015 wurde eine erneute Wahllichtbildvorlage mit der Zeugin durchgeführt, bei der ein anlässlich der Ausstellung eines neuen Personalausweises am 2. August 2014 gefertigtes Passfoto des Angeklagten verwendet wurde. Hierbei hatte die Zeugin erneut den Angeklagten aus 8 Vergleichfotos, darunter auch ein Foto seines Zwillingbruders wiedererkannt.
Das Landgericht Potsdam hat mit Urteil vom 2. Februar 2016 das amtsgerichtliche Urteil aufgehoben und den Angeklagten wegen Beleidigung und wegen Verstoßes gegen das Pflichtversicherungsgesetz zu einer Gesamtgeldstrafe von 120 Tagessätzen verurteilt. Die Berufungskammer hat die Vorwürfe aus der Anklage vom 20. Oktober 2014 als zutreffend festgestellt und dies auf die Identifizierung des Angeklagten durch die Zeugin bei den Wahllichtbildvorlagen gestützt.
Gegen diese Verurteilung richtete sich die Revision des Angeklagten.
Revision des Angeklagten
Mit der Revision wird gemäß § 337 StPO überprüft, ob das Urteil Rechtsfehler enthält. Eine Beweisaufnahme zur Feststellung von Tatsachen findet in der Revisionsinstanz nicht statt. Vielmehr ist das Revisionsgericht grundsätzlich an die Beweiswürdigung der letzten Tatsacheninstanz gebunden. Unter bestimmten Voraussetzungen kann diese Beweiswürdigung jedoch im Einzelfall mit Erfolg angegriffen werden.
Aus den Gründen:
„(..) Im vorliegenden Fall hält die Beweiswürdigung einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Die Würdigung der erhobenen Beweise gehört grundsätzlich zu den ureigenen tatrichterlichen Aufgaben, die in weiten Bereichen der revisionsrechtlichen Überprüfung entzogen ist. Dem Tatrichter bleibt es vorbehalten, sich eine Überzeugung von der Schuld oder der nicht vorhandenen Schuld des Angeklagten zu verschaffen. Daher ist das Revisionsgericht grundsätzlich an die Beweiswürdigung des Tatrichters gebunden. Jedoch sind die Beweismittel und deren Würdigung in das schriftliche Urteil aufzunehmen, weil anderenfalls jede Überprüfung der Richtigkeit des Schuldspruchs durch das Revisionsgericht ausgeschlossen wäre. Die höchstrichterliche Rechtsprechung verlangt vom Tatrichter regelmäßig eine Beweiswürdigung, in der die Ergebnisse der Beweisaufnahme – als Grundlage der tatsächlichen Feststellungen – darzustellen und erschöpfend zu würdigen sind. In welchem Umfang dies geboten ist, richtet sich nach der jeweiligen Beweislage, nicht zuletzt nach der Bedeutung, die der jeweiligen Beweisfrage unter Berücksichtigung des Tatvorwurfs und des Verteidigungsvorbringens für die Wahrheitsfindung zukommt (..). Der Nachprüfung der tatrichterlichen Beweiswürdigung obliegt dem mit der Sachrüge befassten Revisionsgericht jedoch unter dem Gesichtspunkt, ob sie rechtliche Fehler aufweist. Solche Fehler können darin begründet sein, dass die Beweiswürdigung unklar, unvollständig bzw. lückenhaft oder widersprüchlich ist, ferner gegen Denk- oder Erfahrungssätze verstößt oder die erhobenen Beweise eine Überführung des Täters nicht zulassen (….).“
Fehler der vorgenannten Art werden von der Rechtsprechung als Verstoß gegen den
Grundsatz der freien Beweiswürdigung gemäß § 261 StPO angesehen:
„Letzteres ist vorliegend der Fall, was einen Verstoß gegen § 261 StPO darstellt. Das Berufungsgericht stützt die Verurteilung des Angeklagten auf die Aussage der Zeugin …in der Hauptverhandlung am 2. Februar 2016, wonach sie den Täter zwar nicht bei der Gegenüberstellung mit dem Angeklagten und seinem Zwillingsbruder in der Hauptverhandlung, jedoch bei den Wahllichtbildvorlagen am 12. August 2014 und am 4. August 2015 wiedererkannt habe (…). Dies ist dem Grunde nach nicht zu beanstanden und kann zur Überführung eines Täters ausreichend sein. Im vorliegenden Fall besteht jedoch zum einen die Besonderheit, dass die Zeugin die einzige Belastungszeugin ist (Situation Aussage gegen Aussage), zum anderen die Besonderheit, dass als Täter neben dem Angeklagten auch dessen eineiiger Zwillingsbruder, von dem bei den Wahllichtbildvorlagen ebenfalls Fotos beigefügt waren, in Betracht kam. Schließlich war bei der Beweiswürdigung besonders zu berücksichtigen, dass die Zeugin den Angeklagten als Täter anlässlich der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht am 5. Februar 2015 und bei der Hauptverhandlung vor dem Berufungsgericht am 2. Februar 2016 nicht wiedererkannt hatte.
Im amtsgerichtlichen Urteil ist ausgeführt, dass die Zeugin „den Kreis der potentiellen Täter nur auf die beiden Zwillingsbrüder einschränken“ konnte (…), im angefochtenen landgerichtlichen Urteil heißt es: „Sie [die Zeugin] gehe noch immer davon aus, dass es der Angeklagte war, der mit seinem Motorrad vor ihr gehalten habe. Mit letzter Sicherheit könne sie es jetzt aber nicht mehr sagen. Sie gab aber glaubhaft und nachvollziehbar an, dass sie den Angeklagten wegen seiner Gesichtsform seinerzeit bei den Wahllichtbildvorlagen deutlich erkannt habe.“ …). Die Erinnerungsfähigkeit der Zeugin in der Hauptverhandlung vor dem Berufungsgericht schien erheblich eingeschränkt gewesen zu sein, da sie sich zum einen nicht mehr daran erinnern konnte, ob das Motorrad ein Nummernschild hatte, und auch nicht angeben konnte, ob sie beim Bespucken durch den Täter getroffen worden war (…).“
Sodann geht das oberste Gericht des Landes Brandenburg auf die speziellen Probleme bei der Beweiswürdigung im Rahmen des Wiedererkennens ein:
„Das Wiedererkennen einer Person nach einer Wahllichtbildvorlage oder einer Gegenüberstellung durch einen Zeugen wirft besondere Probleme für die Beweiswürdigung auf. In Fällen des wiederholten Wiedererkennens kommt dem späteren Wiedererkennen nur ein fragwürdiger bzw. eingeschränkter Beweiswert zu (…), woraus erhöhte Anforderungen an die Beweiswürdigung resultieren (…). Denn nach den gesicherten Erkenntnissen der kriminalistischen Praxis ist die Verlässlichkeit eines erneuten Wiedererkennens fragwürdig, weil es durch das vorangegangene Wiedererkennen beeinflusst werden kann; in der Regel wird der beim ersten Wiedererkennen gewonnene Eindruck das ursprüngliche Erinnerungsbild überlagern (…).“
Kommen – wie vorliegend – eineiige Zwillinge als Täter in Betracht sind erhöhte Anforderungen an die Beweiswürdigung zu stellen. Insbesondere bei der Verwendung von Lichtbildern ist erforderlich, dass das Datum der jeweiligen Aufnahme nur geringfügig differieren darf:
„Auf der anderen Seite spricht – wie im vorliegenden Fall – ein Nichtwiedererkennen in der Hauptverhandlung gegen die Zuverlässigkeit der früheren Identifizierung im Ermittlungsverfahren (…). Zwar kann auch diese Vermutung widerlegt werden, jedoch sind auch hier erhöhte Anforderungen an die Beweiswürdigung zu stellen. Dies gilt insbesondere, wenn – wie hier – eineiige Zwillinge als Täter in Frage kommen. Der Wahllichtbildvorlage vorzuziehen ist in solchen Fällen stets die zuverlässigere Gegenüberstellung, die sequentiell (sukzessiv) durchgeführt werden sollte (…). Wird dennoch die Wahllichtbildvorlage gewählt, ist erforderlich, dass die verwendeten Lichtbilder von Zwillingen in einem engen zeitlichen Abstand sowohl zueinander als auch zur Tatzeit gefertigt worden sind. Nur so können sie für eine vergleichende Betrachtung tauglich sein. Wie sich aus den Urteilsgründen jedoch ergibt, wurden bei der ersten Wahllichtbildvorlage am 12. August 2014 Fotos des Angeklagten und seines Zwillingsbruders vorgelegt, die zu unterschiedlichen Zeiten aufgenommen worden waren (Bl. 9 UA). Während – worauf die Verteidigung in ihrer Revisionsbegründungsschrift vom 13. März 2016 zutreffend hinweist – das Foto des Angeklagten bei der ersten Vorlage bereits über drei Jahre alt war, war das verwendete Foto des Zwillingsbruders … erst vier Monate vor der Vorlage an die Zeugin gefertigt worden. Aufgrund der im Alter von 22 bis 25 Jahren nicht unüblichen Veränderungen sind solche zeitlich auseinanderfallende Fotos von Zwillingen für eine Wahllichtbildvorlage nicht geeignet. (…)“
Schließlich kam hinzu, dass bei der Lichtbildvorlage am 12.8.2014 ausweislich der Urteilsgründe ein dunkleres Foto vom Angeklagten und ein helleres Foto von dem Zwillingsbruder verwendet wurde, was ebenfalls die Zeugin beeinflusst haben könnte.
Da das Gericht aus den vorgenannten Gründen ausgeschlossen hat, dass im Falle einer Zurückverweisung an das Landgericht in einer neuen Hauptverhandlung die Schuld des Angeklagten festgestellt werden kann, konnte das Oberlandesgericht gemäß § 354 Abs. 1 StPO selbst freisprechen.
Zusammenfassung:
- Ein Nichtwiedererkennen eines noch im Ermittlungsverfahren im Rahmen einer Wahllichtbildvorlage erkannten Tatverdächtigen in der Hauptverhandlung spricht gegen die Zuverlässigkeit der früheren Identifizierung im Ermittlungsverfahren
- Dies gilt insbesondere, wenn – wie hier – eineiige Zwillinge als Täter in Frage kommen. Der Wahllichtbildvorlage vorzuziehen ist in solchen Fällen stets die zuverlässigere Gegenüberstellung, die sequentiell (sukzessiv) durchgeführt werden sollte.
- Wird dennoch die Wahllichtbildvorlage gewählt, ist erforderlich, dass die verwendeten Lichtbilder von Zwillingen in einem engen zeitlichen Abstand sowohl zueinander als auch zur Tatzeit gefertigt worden sind. Nur so können sie für eine vergleichende Betrachtung tauglich sein.
- Die Verwendung eines dunkleren Fotos vom Angeklagten und eines helleren Fotos seines Zwillingsbruders im Rahmen einer Wahllichtbildvorlage könnte den Zeugen in seiner Wahrnehmung beeinflusst haben.