Anspruch des adoptierten Kindes gegen leibliche Mutter auf Auskunft über Vater
BGH Beschluss vom 19.1.2022 – XII ZB 183/21
Aus dem Sachverhalt:
Die Ast. begehrte von ihrer leiblichen Mutter, der Ag., Auskunft über die Person des leiblichen Vaters. Die Ast. wurde im Jahr 1984 von der damals gerade 16 Jahre alt gewordenen Ag. geboren. Die in problematischen Familienverhältnissen aufgewachsene Ag. hatte die Schwangerschaft erst im siebten Monat bemerkt und die Hauptschule, deren siebte Klasse sie damals besuchte, ohne Schulabschluss verlassen. Nach der Geburt lebte sie mit der Ast. zunächst in einem Mutter-Kind-Heim und später in einer Mädchen-Wohngemeinschaft, bevor die Ast. von einem Ehepaar adoptiert wurde. Ein im Jahr 1985 durchgeführtes Vaterschaftsfeststellungsverfahren blieb ebenso ohne Erfolg wie ein außergerichtlicher Vaterschaftstest mit einem weiteren Mann. Ende 2003 kam es auf Vermittlung des Jugendamts zu einem Treffen zwischen Ast. und Ag. Nachdem die Ast. die Ag. im März 2018 erfolglos aufgefordert hatte, Namen und Anschrift des leiblichen Vaters zu benennen, hat sie sie gerichtlich auf Auskunft in Anspruch genommen.
Das AG Stuttgart (…) hat den Antrag zurückgewiesen, weil der Ag. die Auskunftserteilung unmöglich sei. Auf die Beschwerde der Ast. hat das OLG Stuttgart (…) diese Entscheidung abgeändert und die Ag. antragsgemäß verpflichtet, der Ast. alle Männer mit vollständigem Namen und Adresse zu benennen, die der Ag. in der gesetzlichen Empfängniszeit beigewohnt haben. Die zugelassene Rechtsbeschwerde der Ag. hatte keinen Erfolg.
Aus den Gründen:
„(…)
Das Recht eines Kindes auf Kenntnis der eigenen Abstammung wird von dem in Art. 2 Absatz I iVm Art. 1 Absatz I GG verbürgten allgemeinen Persönlichkeitsrecht umfasst. Es genießt daher verfassungsrechtlichen Schutz, woraus jedoch kein Anspruch auf Verschaffung solcher Kenntnisse folgt. Vielmehr kann das allgemeine Persönlichkeitsrecht nur vor der Vorenthaltung erlangbarer Informationen durch staatliche Organe schützen. Im Verhältnis zwischen Privatrechtssubjekten bedarf es dagegen einer zivilrechtlichen Anspruchsgrundlage, um eine entsprechende Auskunft verlangen zu können (…).
Anspruchsgrundlage für das Auskunftsverlangen eines Kindes gegen seine leibliche, nicht rechtliche Mutter über die Person seines leiblichen Vaters ist entgegen der Annahme des OLG nicht die Generalklausel des § 242 BGB, sondern § 1618a BGB.
a) Ein volljähriges Kind, das von seiner rechtlichen Mutter Auskunft über die Identität seines Vaters fordert, kann dieses Begehren auf die Vorschrift des § 1618a BGB stützen, nach der Eltern und Kinder einander Beistand und Rücksicht schuldig sind (…).
Allerdings hat der Gesetzgeber den durch das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der elterlichen Sorge vom 18.7.1979 (…) mit Wirkung zum 1.1.1980 eingeführten § 1618a BGB bewusst als „lex imperfecta“ ausgestaltet und damit so gefasst, dass die Norm nur Leitlinien aufzeigt, an einen Verstoß aber keine unmittelbaren Rechtsfolgen knüpft (…).
Es ist jedoch schon mit Blick auf die Gesetzesmaterialien zweifelhaft, ob diese beabsichtigte „Sanktionslosigkeit“ mit einer rechtlichen Unverbindlichkeit der Bestimmung einhergehen sollte. Denn auch nach der Vorstellung des historischen Gesetzgebers sollte die Bestimmung geeignet sein, zum einen „bei der Ausfüllung von Lücken im Familienrecht herangezogen zu werden“ (…) und zum anderen eine ähnliche Bedeutung zu erlangen, wie sie die – zu konkreten Ansprüchen führende – Verpflichtung zur ehelichen Lebensgemeinschaft nach § 1353 Absatz I 2 BGB für die Ehe hat (…). Unabhängig davon hat eine gegebenenfalls intendierte Unverbindlichkeit im Gesetzestext jedoch keinen Ausdruck gefunden. Im Gegenteil spricht der Wortlaut („sind (…) schuldig“) dafür, dass Eltern und Kindern wechselseitig Rechtsansprüche aus der Vorschrift erwachsen können.
Nach der Rechtsprechung des BGH begründet die Norm echte Rechtspflichten, so dass ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot des § 1618a BGB zur Sittenwidrigkeit einer Bürgschaft führen kann, die ein Kind für Ansprüche der Bank gegen seine Eltern übernommen hat (…).
Ihr kommt im Hinblick auf ihre Leitbildfunktion auch Bedeutung bei der Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe und der Ausfüllung von Lücken zu, weshalb sie für die strafrechtliche Betrachtung zur Bestimmung einer Garantenstellung Geltung beansprucht (…).
Die von § BGB § 1618a BGB mithin angeordnete Rechtspflicht der Eltern, ihrem Kind Beistand zu leisten, kann sich im Einzelfall auch dahin konkretisieren, dass die Mutter dem Kind Auskunft über die Person des leiblichen Vaters erteilen muss.
Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG hat das allgemeine Persönlichkeitsrecht unter anderem die Aufgabe, Grundbedingungen dafür zu sichern, dass die einzelne Person ihre Individualität selbstbestimmt entwickeln und wahren kann. Sein Schutz greift dann, wenn die selbstbestimmte Entwicklung und Wahrung der Persönlichkeit spezifisch gefährdet ist, was bei Vorenthaltung verfügbarer Informationen über die eigene leibliche Abstammung der Fall sein kann. Denn die Kenntnis der eigenen Abstammung kann für die Entwicklung der Persönlichkeit von erheblicher Bedeutung sein. Die Möglichkeit, sich als Individuum nicht nur sozial, sondern auch genealogisch in eine Beziehung zu anderen zu setzen, kann im Bewusstsein der einzelnen Person eine Schlüsselstellung für ihre Individualitätsfindung wie für ihr Selbstverständnis und ihre langfristigen familiären Beziehungen zu anderen einnehmen. Umgekehrt kann die Unmöglichkeit, die eigene Abstammung zu klären, die einzelne Person erheblich belasten und verunsichern (…).
Dem entspricht, dass das Recht auf Achtung des Privatlebens nach Artikel 8 Absatz I EMRK nach der ständigen Rechtsprechung des EGMR auch das Recht auf Identität einschließt, zu dem das Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung gehört (…).
Das allgemeine Persönlichkeitsrecht gibt zwar keinen Anspruch auf Verschaffung verfügbarer Abstammungsinformationen. Aus ihm folgt jedoch die verfassungsrechtliche Verpflichtung des Staates, der Schutzbedürftigkeit des Einzelnen vor der Vorenthaltung verfügbarer Informationen über die eigene Abstammung bei der Ausgestaltung der Rechtsbeziehungen zwischen den Betroffenen angemessen Rechnung zu tragen. In aller Regel ist es nicht der allein unmittelbar grundrechtsgebundene Staat, der die Betroffenen an der Erlangung von Informationen zu ihrer leiblichen Herkunft hindert, sondern es fehlt an der notwendigen Mitwirkung durch Privatpersonen wie insbesondere durch die Eltern. Der Staat bleibt dann gleichwohl zum Schutz aufgerufen, weil sich die verweigerten Abstammungsinformationen nur mit seiner Hilfe erlangen lassen. Nötigenfalls muss ein Verfahren bereitstehen, in welchem die Klärung erfolgen kann (…), woraus sich auch die Notwendigkeit einer entsprechenden zivilrechtlichen Anspruchsgrundlage ergibt.
Fehlt es an einem vom Gesetzgeber ausdrücklich vorgesehenen entsprechenden Schutzkonzept, so ist es die Aufgabe der Zivilgerichte, die vom allgemeinen Persönlichkeitsrecht ausgehende Schutzpflicht im Wege der Rechtsfortbildung oder bei der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe wahrzunehmen (…).
Mit Blick auf diese verfassungsrechtlichen Vorgaben ist § 1618a BGB als Anspruchsgrundlage für die Auskunft des Kindes gegen seine Mutter über die Identität des leiblichen Vaters auszulegen. (…)
Zusammenfassung:
- Anspruchsgrundlage für das Auskunftsverlangen eines Kindes gegen seine leibliche, nicht rechtliche Mutter über die Person seines leiblichen Vaters ist – trotz des von § 1755 Absatz I 1 BGB angeordneten Erlöschens des rechtlichen Eltern-Kind-Verhältnisses aufgrund Adoption – § 1618a BGB.
- Bei einem auf § 1618a BGB gestützten Auskunftsbegehren über die Person des leiblichen Vaters handelt es sich um eine sonstige Familiensache und damit um eine Familienstreitsache.
- Durch die Mitteilung der leiblichen Mutter, der mögliche Erzeuger oder dessen Name sei ihr nicht bekannt, wird der Auskunftsanspruch nicht erfüllt. Eine fehlende Kenntnis kann von der Mutter aber als eine den Anspruch ausschließende Unmöglichkeit geltend gemacht werden. Dazu gehört auch der Vortrag und erforderlichenfalls der Beweis, dass sie die ihr unter den Umständen des Einzelfalls zumutbaren Erkundigungen eingeholt hat.
- Ein auf Auskunft über die Identität des leiblichen Vaters gerichteter Titel ist vollstreckbar und die Vollstreckung ist nicht durch § 120 Absatz III FamFG analog ausgeschlossen.