Anfechtung der Vaterschaft durch den leiblichen Vater
BGH, Urteil vom 15.11.2017 – XII ZB 389/16
Der biologische Vater und der rechtliche Vater haben beide eine sozial-familiäre Beziehung zu dem 2013 geborenen Kind. Nachdem das Amtsgericht dem Antragsteller ein Anfechtungsrecht versagt hatte, hat die Beschwerdeinstanz festgestellt, dass nicht der rechtliche Vater, sondern der biologische Vater der Vater des Kindes ist. Der rechtliche Vater hat die zugelassene Rechtsbeschwerde eingelegt. Im Oktober 2016 haben die Mutter und der ASt geheiratet.
Die Rechtsbeschwerde war erfolgreich.
Nach § 1600 Absatz 1 Nr. 2 BGB ist zur Anfechtung der Vaterschaft auch der Mann berechtigt, der an Eides statt versichert, der Mutter während der Empfängniszeit beigewohnt zu haben. Die Anfechtung setzt in diesem Fall gem. § 1600 Absatz 2 BGB voraus, dass zwischen dem Kind und seinem rechtlichen Vater keine sozial-familiäre Beziehung besteht und dass der Anfechtende leiblicher Vater des Kindes ist.
Da der Antragsteller nach zugrunde zulegenden Feststellungen der Vorinstanzen leiblicher Vater des Kindes war, kam es im vorliegenden Fall darauf an, ob zwischen dem rechtlichen Vater und dem Kind eine sozial-familiäre Beziehung besteht und diese die Anfechtung durch den biologischen Vater hindert. Beides hat der BGH im Ergebnis zu bejaht.
Zutreffend sei das Oberlandesgericht davon ausgegangen, dass eine sozial-familiäre Beziehung zwischen dem Kind und dem rechtlichen Vater besteht.
Das Bestehen einer sozial-familiären Beziehung setzt nach § 1600 Absatz 3 S. 1 BGB voraus, dass der rechtliche Vater für das Kind tatsächlich Verantwortung trägt.
Verantwortung trägt derjenige, der sich um die Pflege und Erziehung des Kindes kümmert. Eine Übernahme tatsächlicher Verantwortung liegt nach § 1600 Absatz 3 S. 2 BGB in der Regel vor, wenn der rechtliche Vater mit der Mutter des Kindes verheiratet ist oder mit dem Kind längere Zeit in häuslicher Gemeinschaft zusammengelebt hat.
Das Zusammenleben in einem Haushalt sei allerdings keine Voraussetzung der sozial-familiären Beziehung. Die Übernahme tatsächlicher Verantwortung könne auch in anderer Form erfolgen, indem der Vater etwa wesentliche Betreuungsleistungen für das Kind erbringe, ohne mit diesem dauerhaft in einem Haushalt zu leben. Dass die tatsächliche Wahrnehmung elterlicher Verantwortung nicht auf den Fall des Zusammenlebens in einem Haushalt beschränkt, sondern auch darüber hinaus möglich sei, zeige sich etwa, wenn der rechtliche Vater nach Trennung der rechtlichen Eltern regelmäßige Kontakte zu dem Kind unterhalte und sich hierbei um die Pflege und Erziehung des Kindes kümmere. Denn die sozial-familiäre Beziehung müssten nur zwischen rechtlichem Vater und Kind bestehen und setzten nicht voraus, dass gleichzeitig eine entsprechende Beziehung des rechtlichen Vaters zur Mutter bestehe. Auch bei regelmäßigen Umgangskontakten zwischen rechtlichem Vater und Kind sei daher grundsätzlich vom Bestehen einer sozial-familiären Beziehung auszugehen.
In zeitlicher Hinsicht komme es grundsätzlich für das Bestehen der sozial-familiären Beziehung auf den Abschluss der Beschwerdeinstanz als der letzten Tatsacheninstanz an.
Zu diesem Zeitpunkt müsse die sozial-familiäre Beziehung aktuell bestehen. Es genüge nicht, dass der rechtliche Vater die tatsächliche Elternverantwortung zu einem früheren Zeitpunkt übernommen habe, wenn diese zu einem späteren Zeitpunkt beendet worden sei und bei Abschluss der letzten Tatsacheninstanz nicht mehr bestehe.
Im Übrigen setzte das Bestehen einer sozial-familiären Beziehung keine bestimmte Mindestdauer voraus. Ein längeres Zusammenleben mit dem Kind sei zwar ein Indiz, nicht aber eine notwendige Voraussetzung für das Bestehen einer sozial-familiären Beziehung. Diese könne bereits bei kürzerem Zusammenleben bejaht werden, wenn dieses noch andauere und der Tatrichter überzeugt sei, dass der rechtliche Vater die tatsächliche Verantwortung für das Kind übernommen habe und in einer Weise trage, die auf Dauer angelegt erscheine. Eine sozial-familiäre Beziehung könne demzufolge insbesondere auch bei zusammenlebenden nicht verheirateten rechtlichen Eltern sogleich nach der Geburt des Kindes gegeben sein. Dass die Voraussetzungen der Regelannahmen nach § 1600 Absatz 3 S. 2 BGB zu diesem Zeitpunkt (noch) nicht erfüllt sind, schließe dies nicht aus, weil es sich bei den Regelannahmen lediglich um – widerlegbare – Indizien und nicht um eine gesetzliche Begrenzung des Begriffs der sozial-familiären Beziehung handele.
Das Anfechtungsbegehren des leiblichen Vaters ist nach § 1600 Absatz 2 BGB nur begründet, wenn zwischen dem Kind und seinem rechtlichen Vater keine sozial-familiäre Beziehung besteht oder im Zeitpunkt seines Todes bestanden hat. Darauf, ob auch zwischen leiblichem Vater und Kind eine sozial-familiäre Beziehung besteht, komme es nach dem eindeutigen Wortlaut der gesetzlichen Regelung nicht an.
Für eine einschränkende Auslegung der Norm bestehe entgegen der Auffassung des Oberlandesgerichts keine Möglichkeit. Dass eine sozial-familiäre Beziehung des Kindes zu seinem rechtlichen Vater, wie das Oberlandesgericht meint, einer Anfechtung durch den leiblichen Vater dann nicht entgegenstehe, wenn dieser seinerseits eine sozial-familiäre Beziehung zu dem Kind habe und mit ihm in einer Familie zusammenlebe, finde im Gesetz keine Grundlage und ergebe sich insbesondere nicht aus einer historischen oder teleologischen Auslegung.
Das Anfechtungsrecht des leiblichen Vaters ist grundsätzlich zu gewährleisten
Die Anfechtung der Vaterschaft durch den leiblichen Vater ist durch das Gesetz zur Änderung der Vorschriften über die Anfechtung der Vaterschaft und das Umgangsrecht von Bezugspersonen des Kindes vom 23.4.2004 eingeführt worden. Der Gesetzgeber kam damit einer Anordnung des BVerfG nach, die dieses in seiner Entscheidung vom 9.4.2003 getroffen hatte. Das BVerfG hatte § 1600 BGB in der seinerzeit gültigen Fassung für insoweit mit Artikel 6 Absatz 2 S. 1 GG nicht vereinbar erklärt, als er den leiblichen, aber nicht rechtlichen Vater eines Kindes ausnahmslos von der Anfechtung einer Vaterschaftsanerkennung ausschloss. Dem lag die Erwägung zugrunde, dass auch der leibliche, aber nicht rechtliche Vater eines Kindes unter dem Schutz von Artikel 6 Absatz 2 S. 1 GG stehe. Leiblicher Vater eines Kindes zu sein, mache diesen zwar allein noch nicht zum Träger des Elternrechts aus Art. 6 Abs. S. 1 GG. Die Grundrechtsnorm schütze den leiblichen Vater aber in seinem Interesse, die Rechtsstellung als Vater des Kindes einzunehmen. Dieser Schutz vermittle ihm kein Recht, in jedem Fall vorrangig vor dem rechtlichen Vater die Vaterstellung eingeräumt zu erhalten. Ihm sei jedoch vom Gesetzgeber die Möglichkeit zu eröffnen, die rechtliche Vaterposition zu erlangen, wenn dem der Schutz einer familiären Beziehung zwischen dem Kind und seinen rechtlichen Eltern nicht entgegenstehe und festgestellt werde, dass er der leibliche Vater des Kindes sei (BVerfGE 108, Seite 82).
Kein Anfechtungsrecht des leiblichen Vaters bei familiärer Beziehung des rechtlichen Vaters zum Kind
Damit habe das BVerfG den verfassungsrechtlich gebotenen Rahmen einer gesetzlichen Neuregelung bereits dahin vorgegeben, dass das Anfechtungsrecht gesetzlich zu gewährleisten sei, wenn keine familiäre Beziehung zwischen Kind und rechtlichem Vater bestehen. Das Gesetz stellt nicht auf eine sozialfamiliäre Beziehung des Kindes mit seinen rechtlichen Eltern, sondern nur auf eine solche mit seinem rechtlichen Vater ab. Denn für das Elternrecht des rechtlichen Vaters komme es nicht darauf an, ob dieser in familiärer Gemeinschaft mit der Mutter lebe oder nicht. Nach der Trennung von der Mutter bleibe er unverändert Träger des Elternrechts. Gehe das Elternrecht des rechtlichen Vaters mit einer bestehenden sozial-familiären Beziehung einher, sei es auch in dieser Konstellation gegenüber dem grundrechtlich geschützten Interesse des leiblichen Vaters, in die rechtliche Vaterstellung einrücken zu können, vorrangig. Die vom Oberlandesgericht aufgestellte Voraussetzung, zwischen dem leiblichen Vater, der Mutter und dem Kind müsse zusätzlich eine familiäre Beziehung bestehen, würde hingegen letztlich die sozial-familiäre Beziehung zur Mutter den Ausschlag geben lassen. Das würde aber sowohl dem Elternrecht des rechtlichen Vaters als auch der gesetzlichen Systematik in § 1600 Absatz 2 und § 1600 Absatz 3 BGB widersprechen, die nur auf die Übernahme tatsächlicher Verantwortung für das Kind abstellt, nicht aber auf das Bestehen einer sozial-familiären Beziehung des rechtlichen Vaters zur Mutter. Der Mutter steht ohnedies ein eigenes Anfechtungsrecht zu, das selbst von einer bestehenden sozial-familiären Beziehung des Kindes zum rechtlichen Vater nicht gehindert wird. Von diesem hat die Mutter, die vor dem Amtsgericht der Vaterschaftsanfechtung ausdrücklich widersprochen hat, im vorliegenden Fall keinen Gebrauch gemacht.
Die wortlautgetreue Gesetzesanwendung entspreche somit den Vorgaben des BVerfG. Dafür, dass der Gesetzgeber darüber hinausgehen und dem leiblichen Vater weitergehende Rechte einräumen wollte, als dies nach der Rechtsprechung des BVerfG mit Blick auf die widerstreitenden Grundrechtspositionen von rechtlichem und leiblichem Vater geboten war, sei nichts ersichtlich. Die Regelung in § 1600 Absatz 2 BGB sei somit ihrem Wortlaut entsprechend als bewusste gesetzgeberische Entscheidung zu respektieren. Die Frage, ob die bestehende gesetzliche Regelung auch zukünftig noch rechtspolitisch wünschenswert erscheine oder ob den Interessen des leiblichen Vaters ein höherer Stellenwert gebührt, falle schließlich in die alleinige Zuständigkeit des Gesetzgebers.
Zusammenfassung:
- Bei Bestehen einer sozial-familiären Beziehung zwischen Kind und rechtlichem Vater ist der Antrag des leiblichen Vaters auf Anfechtung der Vaterschaft stets unbegründet.
- Eine Auslegung des Gesetzes dahin, dass die Anfechtung dennoch möglich sei, wenn der leibliche Vater seinerseits eine sozial-familiäre Beziehung zu dem Kind habe und mit ihm in einer Familie zusammenlebe, ist nicht zulässig.
- Das mit einer bestehenden sozial-familiären Beziehung einhergehende Elternrecht des rechtlichen Vaters ist auch in dieser Konstellation gegenüber dem grundrechtlich geschützten Interesse des leiblichen Vaters, die rechtliche Vaterstellung erlangen zu können, vorrangig.